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Historischer Rahmen und Entwicklungsbedingungen

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Eine Europäische Religionsgeschichte, die sich von nur additiven Religionsgeschichten Europas [1] unterscheidet, lässt sich mit Hilfe von drei Charakteristika bestimmen: Zum einen ist die Europäische Religionsgeschichte spätestens seit der Renaissance über einen neuen Modus der Professionalisierung von Religion definierbar, der nun Epochengliederungen, Historisierungen und philologische Arbeit auch an religiösen Texten außerhalb der christlichen Tradition erprobt. Auf diese Weise wird, zum anderen, ein Vorlauf für eine Pluralisierung des religiösen Feldes erprobt, die noch mit den christlichen Ansprüchen kompatibel erscheint, zugleich aber alte und fremde Religionen mit einbezieht. Mit der Renaissance wird schließlich eine Dichte intellektueller Kommunikation in Europa erreicht, in deren Rahmen nicht nur bildende Kunst, Musik und Literatur 'flächendeckend' verbreitet werden, sondern auch neue religiöse Entwürfe und Einstellungen. Ein Renaissancefürst, der sich den Ankauf und die schnelle Übersetzung des Corpus Hermeticum angelegen sein lässt – später kanonischer Text für religiöse Strömungen in den unterschiedlichsten Disziplinen – mag als Charakteristikum einer neuen Phase religiöser Optionen in Europa angesehen werden. Nicht nur die 'positiven', institutionalisierten Religionen erfahren die geschuldete Aufmerksamkeit, sondern auch 'Unterströmungen', verdrängte Muster, 'Häresien', 'Alternativen', die explizit oder implizit mit dem Christentum konkurrieren können.

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Die oberitalienischen Stadtstaaten mit ihrer hohen kulturellen Produktivität sind in dieser Phase der Europäischen Religionsgeschichte nicht der einzige systematische und historische 'Ort', an dem eine Pluralisierung des religiösen Feldes erprobt wurde. Das 15. Jahrhundert ist nicht nur das Jahrhundert, in dem ein 'mundus novus' entdeckt wurde, [2] sondern auch das Jahrhundert, in dem in der 'mediteranée' Grenzen religiöser Systeme verschoben werden – mit tiefgreifenden Folgen für die nächsten Jahrhunderte. In Spanien werden mit dem Abschluss der Reconquista zwei Traditionen aus der westlichen Europäischen Religionsgeschichte ausgeschlossen, das Judentum und der Islam, von Osten dafür zwei religiöse Traditionen aus dem Imperium Romanum wiederaufgenommen, die Hermetik und der Neuplatonismus. Unter diesen Bedingungen, in dieser Zwischenphase, versucht – noch im 14. Jahrhundert – an den Grenzen des zusammenbrechenden byzantinischen Reichs ein Byzantiner einen Staatsentwurf zu lancieren, der Platonismus und einen neuplatonischen Polytheismus zur Grundlage eines neuen Staates macht: Georgios Gemistos Plethon. [3] Plethon entwirft, an Platon anschließend, einen vernünftigen Staat auf der Basis einer vernünftigen Religion, die als alethes logos von Zoroaster, über Pythagoras, Philolaos, Platon und Plotin bis in die Gegenwart reicht. Das Angebot an den Despoten der Morea in dieser Krisensituation – zwischen dem Eroberungszug der Osmanen von Osten her und der Missgunst des lateinischen Westens -, einen griechischen Polytheismus, seine 'hellenische Theologie', als 'Staatskirche' einzuführen, scheint ernst gemeint zu sein. Der Staatsentwurf (nomon syngraphe) sollte kein abgehobener 'Idealstaat' sein, [4] sondern reflektiert durchaus die politischen Erfahrungen von Plethon als Verwaltungsbeamter und Richter (prostates ton nomon) im byzantinischen Mistras. Wie jeder ernsthafte religiöse Reformer entwirft er einen neuen Kalender (der sich an dem Metons aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. orientiert), konzipiert eine differenzierte Liturgie und dichtet Hymnen, alles Elemente für einen 'vernünftigen Kultus' im Sinne Platons. [5] 1460 verbrennt der Patriarch Gennadios, Patriarch im dann schon eroberten Konstantinopel, das Buch als Anstiftung zu einer heidnischen Häresie. Damit ist – mehr als 17 Jahrhunderte nach Julian Apostata – ein zweiter Versuch, eine 'polytheistische Staatskirche' zu etablieren, endgültig gescheitert, wie anachronistisch dieser Versuch auch gewesen sein mag.

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Plethon muss trotzdem – oder gerade in diesem Rahmen – eine imponierende Gestalt gewesen sein; der byzantinische Kaiser Johannes VIII. Palaiologos wählt ihn als Berater und bestimmt ihn als Mitglied der griechischen Gesandtschaft für das Konzil von Ferrara 1438/9. Der Weg Gemistos Plethons nach Ferrara (über Venedig) ist denkwürdig [6] und spiegelt in charakteristischer Weise die Situation des untergehenden Byzanz zwischen Osmanischem Reich und lateinischem Westen. Die schwierigen Vorbereitungen des so genannten Unionskonzils hatten nach einigem Hin und Her dazu geführt, dass man sich erst Ende November 1437 auf venezianischen Galeeren nach Italien einschiffte. An Bord der Schiffe befinden sich neben Kaiser und dem byzantinischen Hofstaat, sowie den Despoten und Metropoliten der Morea, Gemistos Plethon und: Nicolaus Cusanus. Plethon, der Byzanz, zumindest aber die Morea mit einer 'hellenischen, paganen Theologie' zu retten versuchte, und der Cusaner, der wohl bedeutendste Philosoph unter den christlichen Theologen des Mittelalters, auf einem Schiff! Da der Kaiser Johannes VIII. ständig seekrank war – er konnte nach den Berichten an Bord weder essen noch schlafen – dauerte die Reise wegen der ständigen Landaufenthalte fast drei Monate. Drei Monate, während derer der Cusaner und Plethon auf engstem Raum beieinander waren, Exponenten zweier Kirchen, unterschiedlicher Staaten oder Reiche, aber wohl eines besonderen gemeinsamen – möglicherweise erst unter diesen Bedingungen gewonnenen philosophischen Impetus. Über die Gespräche der beiden ist nichts bekannt, die philosophischen und theologischen Positionen beider werden nach dieser Reise zumindest deutlicher. Mit Plethons Auftreten in Florenz – wohin das Konzil wegen der langen Dauer verlegt worden war – beginnt gewissermaßen die Renaissance, die platonische Renaissance. Mit einer Schrift "Über den Unterschied zwischen Aristoteles zu Platon" (De differentiis [7]) löst Plethon eine Revision des scholastischen Platon-Bildes und eine für spätere Jahrhunderte programmatische Rezeption aus. Nach der Ansicht von Marsilio Ficino, [8] der die Platon-Renaissance im eigentlichen Sinne getragen hat, hat Plethons Auftreten Cosimo de Medici dazu bewogen, die Platonische Akademie in Florenz wieder zu begründen. Wenn man so will, ist die Florentiner Renaissance durch den anachronistischen Versuch Plethons ausgelöst worden, im 14. Jahrhundert auf der Morea, dem übrig gebliebenen Rest des byzantinischen Reichs, einen Polytheismus als neue 'Staatsreligion' einzuführen.

Wandlungen des Religionsbegriffs zu Beginn der Renaissance

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Marsilio Ficinos Religionsbegriff stellt zusammen mit seinem Konzept einer dem Menschen natürlichen Religion einen Wendepunkt in der Europäischen Religionsgeschichte dar. Vor einem neuplatonischen (und stoischen) Hintergrund betont er in den unterschiedlichsten Formulierungen und Bildern die Natürlichkeit von Religion für alle Menschen: Wie das Fliegen zu den Vögeln gehört oder das Wiehern zu Pferden, gehöre der Besitz von Religion jederzeit und überall zur menschlichen Natur: "inest enim hominibus omnibus semper ubique ... naturam ipsam sequitur speciei". [9] Daraus folgt dann für ihn, dass unterschiedliche Kultus- und Religionsformen möglich und wahrscheinlich sind: "diverso tramite ad diversas multiplicium divinorum honorum possessiones proficiscamur". [10] In 'De Christiana religione' verbindet er gar die universelle Verbreitung von Religion mit ihrer Vielgestaltigkeit, "... divina providentia ... permittat variis locis atque temporibus ritus adorationis varios observari", und erwägt, ob in dieser Vielfalt des Kultus nicht ein wunderbarer Schmuck der Welt liege: "... forsitan vero varietas huiusmodi ... decorem quendam parit in universo mirabilem". [11] Ficinos Konzept einer 'Natürlichkeit von Religion' ist nicht gegen einen Ursprung von Religion aus Offenbarung gerichtet – so wie später die französischen und englischen Deisten Vernunftreligion und Offenbarungsreligion gegeneinander stellten –, sondern verbindet die natürliche Religion mit einer Offenbarungstradition, die nun aber die traditionellen historischen Grenzen überschreitet: So rühmt er in der Vorrede seiner Übersetzung des Corpus Hermeticum Mercurius Termaximus (Hermes Trismegisthos) als einen Philosophen, der sich von der Physik über die Mathematik zur Betrachtung des Göttlichen erhoben habe. In dieser 'prisca theologia' seien ihm dann Orpheus gefolgt, Aglaophemus, Pythagoras, Philolaos und schließlich 'divus Platon'. [12]

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Marsilio Ficinos Gleichsetzung von prisca theologia und philosophia pia erlaubt es ihm, ein vernünftiges Streben nach Gott mit einer Offenbarungstradition zu verbinden: Am Ende dieses "historischen Programms" (P. Kristeller) steht der Philosoph, Ficino selbst, dem es nach göttlicher Vorsehung gerade jetzt obliegt, Religion in ihrer höchsten Form zu bestätigen: "authoritate rationeque Philosophica confirmare". [13] Ficinos Konzept einer philosophia pia, in der sich noch einmal vernünftige Religion und eine über unterschiedliche Kulturen hinwegreichende Offenbarungstradition vereinigen lassen, überwindet ein zentrales Orientierungsmuster des Mittelalters. Während 'Fremdheit' im Mittelalter zuerst über die fremde Religion definiert wurde, dann erst über Sprache und Volkszugehörigkeit und Stand, liefert die These von der Gemeinsamkeit einer religiösen Anlage die Grundlage sowohl für einen tolerierbaren religiösen Pluralismus wie für theologische Diskurse über die Grenzen von Religionen hinweg.

Die 'anderen' Religionen und die europäischen Wissenschaften

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Von diesen Randbedingungen her ist es vielleicht erklärlich, dass sich erst seit der Renaissance in Europa ein Bewusstsein dafür herausgebildet hat, dass die 'anderen' Religionen zum 'natürlichen Umfeld' der eigenen Religion gehören. Hatte zuvor die für Europa charakteristische 'Professionalisierung von christlicher Religion' [14] dazu geführt, dass zwischen 'religio vera' und 'religiones falsae' klar zu unterscheiden war, lieferten philosophische Entwürfe, die ein 'ritus adorationis varios observari' guthießen, gar ein besonderes 'decus' darin sahen, ein neues europäisches Muster, Religionen zu sehen. Nun konnte es zur Aufgabe von Philosophie und Philologien gehören, Texte 'fremder' Religionen zu edieren und zu übersetzen. Marsilio Ficino stellt sich dieser Aufgabe wohl als erster in dem Bewusstsein, damit eine 'theologia prisca' zu bewahren, scheint aber zugleich Grenzen gezogen zu haben: Im Blick auf einige antike Texte, wohl vor allem orphische Hymnen und eine Theogonie, schreibt er in einem Brief an Martinus Uranius, er wolle die Übersetzungen nicht veröffentlichen, um nicht in den Anschein zu geraten, die Leser zu längst widerlegten Religionen zu verleiten: "... ne forte lectores ad priscum deorum daemonumque cultum iamdiu merito reprobatum revocare viderer." [15]

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Mit dem Spätmittelalter hatten sich unterschiedliche Modi einer "narrativen Aneignung des Fremden" [16] herausgebildet, die unter dem Diktat theologischer Anforderungen zunächst in ein "christliches Vergleichswesen" einmündeten. In Verbindung mit der Entdeckung Amerikas vermittelte der 'christliche Mythos' (J. Solé) "den Eroberern der modernen Welt ein wütendes Vorurteil der Einheit, das stets die europäische Expansion mit einem energischen Messianismus verband." [17] Für die korrespondierende Unsicherheit im Umgang mit 'Neuen Welten' und ihren Bewohnern ist die Auseinandersetzung um die Prä-Adamiten bezeichnend, die Isaac de La Peyrère entfesselt hatte; [18] er entging mit knapper Not dem Scheiterhaufen. Mutatis mutandis gilt diese Unsicherheit auch noch nach der Aufklärung unter den Bedingungen säkularer Einzelwissenschaften: Europa scheint der Kontinent zu sein, der mehr als andere fremde Kulturen im Medium der europäischen Wissenschaften 'konsumiert': Fremde Kulturen und ihre Religionen werden über zeitliche und kulturelle Distanzen hinweg so interpretiert, dass sie 'aneignungsfähig' erscheinen und in das europäische kulturelle 'imaginaire' eingehen. Die Entstehung der Komparatistik im Zeitalter des Kolonialismus spiegelt dieses kulturelle Programm wider, mit der 'Vergleichenden Religionswissenschaft' als exponiertem Ausdruck eines Interesses für 'andere' Religionen. [19] "Die eigene Teilhabe an einer Religion wird überlagert oder ersetzt durch ein generelles Interesse an der Religion, das heißt an allen fremden Religionen... Das Dauergespräch über Religion lebt heute nicht vom Interesse an der eigenen Religion, sondern vom Interesse an der Reflexion über eine fremde Religion," konstatiert F. Tenbruck [20] schließlich für das 20. Jahrhundert.

'Scriptura' versus 'magia': Das Pergament als Himmelsleiter

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Mit der philologischen Arbeit der Humanisten war nicht nur ein spezifisches Epochenbewusstsein erzeugt worden, sondern vor allem ein neues Verhältnis zu den wiederentdeckten nichtchristlichen Texten. Die heilsgeschichtliche Dreiteilung von 'Historia Antiqua et Medii Aevi et Nova' wird umgesetzt auf einen reflexiven Traditionalismus, [21] dessen Ziel es ist, das medium tempus, die media aetas, das Mittelalter zu negieren. Der so konzipierte Rückgriff auf die 'Quellen' ist das quasi-religiöse humanistische Programm, an dessen Ende 'Roma surrectura' stehen sollte: "Quis enim dubitare potest quin illico surrectura sit, si ceperit se Roma cognoscere?" (Petrarca). [22] Es wird gern übersehen, dass im Horizont von Humanismus und Renaissance nicht nur die Philologien und Künste aufblühen, sondern auch Wissenschaften von der Natur, die nun mit den im engeren Sinne humanistischen Disziplinen um ein 'Erkenntnismonopol' und eine 'Heilsgewißheit' konkurrieren.

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Dieser Konflikt wird bei Goethe in den Faust-Wagner-Szenen aus der Sicht des ausgehenden 18. Jahrhunderts exemplarisch vorgestellt. Die beiden ersten Szenen von Goethes Faust I , im Allgemeinen mit 'Nacht' und 'Vor dem Tor' überschrieben, 1800-1801 entstanden, sind durch den dramatischen Zusammenstoß zweier 'Methoden' charakterisiert: Es stehen sich gegenüber Fausts Aufschwung in die Geisterwelt, Stichworten der Occulta philosophia des Agrippa von Nettesheim folgend, und der Weg des Famulus Wagner, der vor "der wohlbekannten Schar" warnend sein Heil in den Büchern findet, Wagner, den die "Geistesfreuden", "von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt" (1105) tragen. Nächtliche Szene und die Szene vor dem Tore führen unmittelbar auf die folgenreiche Szene im Studierzimmer, der ersten Begegnung mit Mephisto.

In diese Anfangsszenen ist eine gern übersehene methodische Sequenz eingeflochten, in der Wagner seinerseits einen Fortschritt von Methode und Interesse zwischen Renaissance und ausgehendem 18. Jahrhundert 'beschwört'. Er beginnt mit dem Topos der belehrenden Wirkung der Antike (522-527), überspringt die Phase der Distanz des Wissenschaftlers in einer Experimentierstube (530-533) und des Polyhistors, der in der Öffentlichkeit auftritt (546-547) und endet mit einem Plädoyer für die kritische Methode als Programm des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts. "Wagners sieben Reden bilden also die Geschichte der gelehrsamen Interessen von der Renaissance bis zum letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ab", resümiert Ulrich Gaier in seinem Kommentar zu Goethes Faustdichtungen. [23] Letztes Ziel von Wagners "kritischem Bestreben" ist es, 'ad fontes' zu gelangen: "Wie schwer sind nicht die Mittel zu erwerben, durch die man zu den Quellen steigt!" (562-563). Ein außerordentlich anspruchsvolles Programm, das Faust mit einer paradoxen Gegen-Frage zu konterkarieren sucht: "Das Pergament ist das der heil’ge Bronnen, woraus ein Trunk den Durst auf ewig stillt?" (566-567).

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Das 'trockene' Pergament – nicht einmal der Archetypus, zu dem man mit Hilfe von recensio und emendatio zu gelangen sucht – kann für Faust nicht jene Quelle der ewig sprudelnden Natur sein, von der in dem Eidschwur der Pythagoreer [24] die Rede ist. Die "Quelle der ewigen Natur" [25] ist Teil des Pythagoras zugeschriebenen Eidschwurs bei der Tetraktys; Goethe kannte diesen Schwur wohl aus Oetingers Swedenborg-Buch. Das Paradoxon vom 'Pergament als Quelle' bildet die Folie für die Destruktion von Erwartungen an eine Textphilologie, gegen die ein pathetischer Blick in das Innere und auf die Natur selbst gesetzt wird. Wissenschaftsgeschichtlich gesehen, ist damit auch jener Übergang angesprochen, der in der Erfassung der Welt das Kommentieren durch das Experiment ersetzt hat (und von dem sich Goethe nun seinerseits distanziert). [26] Wagners "kritisches Bestreben" ('kritisch' als Leitfossil der Methode des 17. Jahrhunderts im Übergang von Frankreich nach Deutschland), bleibt aus Fausts Sicht auf der Ebene des Textes, am 'trockenen' Pergament hängen.

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Wagner ist freilich nicht der "trockene Schleicher" (Vers 521), als den ihn (wie Faust) auch die modernen Interpreten gern sehen wollen, sondern vertritt im Rahmen seiner Möglichkeiten einen Fortschrittsglauben und – wenn man so will – einen 'Wissenschafts-Optimismus'. Gegen Fausts resignierendes Pathos "wer ... kann ... noch hoffen, aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen" (1064-1065), setzt er seine "Geistesfreuden", in der Erwartung, über den Gebrauch der Bücher mit dem 'Himmel' in Verbindung zu treten: "Und ach! entrollst du gar ein würdig Pergamen, so steigt der ganze Himmel zu dir nieder." (1108-1109). Die hier vorgetragene Anspielung auf Jakobs Traum Genesis 1, 28 (Jakob träumt, dass die Engel auf einer Leiter vom Himmel auf und nieder steigen) ist kaum weniger anmaßend als Fausts Unternehmung. "Faust, der alles auf einmal und im Überfluß will", notiert Ulrich Gaier [27] in diesem Zusammenhang, "erreicht nichts; Wagner, trocken, aber darum nicht weniger 'Schwärmer' als Faust, gräbt auf seine methodische Weise wenigstens den Menschen und seine Selbsterkenntnis aus ...".

Die Wagner-Szene spiegelt so eine charakteristische Position und Phase Europäischer Religionsgeschichte: Eine Auseinandersetzung darüber, ob Erkenntnis über Schrift und Lesen genauso weit führt, wie der von Faust erstrebte Aufschwung in die Geisterwelt: 'magia' gegen 'scriptura', nun aber nicht im Rahmen eines christlichen, sondern eines humanistischen Programms. Wagner steht mit seiner Erwartung, dass beim Lesen des Pergaments "der ganze Himmel niedersteigt", über die bereits skizzierten methodischen Schritte einer Philologie hinaus in einer Tradition, die das Lesen in einer neuen Weise thematisiert und zugleich prämiert. Die 'Lesbarkeit der Welt' (Blumenberg) kulminiert in einer 'Lesbarkeit von Religion'. [28] Nach antikem Vorbild sind in Wagners pathetischem Ausruf (Und ach! entrollst du gar ...) Entrollen und Lesen einander zugeordnet: Die geöffnete Buchrolle annonciert ab dem 3. nachchristlichen Jahrhundert in der Ikonographie den Leser, [29] manchmal sogar den nachdenklichen, 'einsamen Leser'.

Platonismen als Korrektive: Die Cambridger Neuplatonisten

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Noch ein weiteres Mal hat die neuplatonische Tradition in der Europäischen Religionsgeschichte dazu gedient, in einer bestimmten Situation in Opposition zur herrschenden religiösen Position zu treten und Alternativen zu provozieren. Bei den Cambridger Platonikern [30] mit Benjamin Whichcote an der Spitze war es zunächst die Prädestinationslehre Calvins mit ihren rigiden Vorgaben, die ein Bedürfnis nach einer anderen Anthropologie und anderen religiösen Tradition als der dominanten christlichen auftreten ließ. Die englischen Puritaner hatten die calvinistische Position fast unverändert übernommen, nach der Erwählung oder Verdammung eines Menschen von aller Ewigkeit her von Gott vorherbestimmt und gewusst ist. Gegen die englische Version des Calvinismus, aber auch gegen die Theorien von Hobbes, stellt diese Cambridger Gruppe von Theologen die Forderung nach einem 'vernünftigen Christentum', das die menschliche Vernunft und die göttliche Weisheit aufeinander bezogen sein lässt. Eideshelfer für das Postulat eines intuitiven Erfassens des Wahren und Richtigen durch den Menschen ist wiederum Platon in der Traditionslinie des Neuplatonismus: Erkenntnisfähigkeit und Entscheidungsfähigkeit des Menschen sind die Voraussetzungen für eine moralische Bewertung des Menschen und schließlich Basis seiner Autarkie.

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Der andere Gegenpol der Cambridger Platonisten, insbesondere für Henry More, ist Descartes, dessen mechanistische Physik scharf angegriffen wird: " es gibt im ganzen Universum nicht eine einzige rein mechanische Erscheinung", heißt es im Vorwort zu den 'Divine Dialogues' von Henry More. Ralph Cudworth, ein weiterer Cambridger Platoniker, formuliert demgegenüber: "Ein vollkommenes verstehendes Wesen ist der Beginn und das Oberhaupt in der Skala des Seins – und von hier steigen die Dinge gradweise herab, bis sie in der jedes Sinnes beraubten Materie enden. Der Geist ist das älteste unter den Dingen, den Elementen und allen körperlichen Dingen vorgeordnet, das eigentlich führende Prinzip, das Hegemonikon der Welt." [31] Das ist, Mitte des 17. Jahrhunderts vorgetragen, praktisch reine plotinische Ontologie, gegen eine mechanistische Philosophie als exklusives Interpretationsmuster gewandt.

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Ernst Cassirer sieht die "Bedeutung der Schule von Cambridge für die allgemeine Religionsgeschichte" (dies eine Kapitelüberschrift in seinem Buch über die Platonische Renaissance in England) nicht in einer breiten Wirksamkeit ihrer Vertreter, sondern darin, "daß sie eine Reihe wichtiger gedanklicher Motive festgehalten und daß sie sie in die Folgezeit hinübergerettet haben. Sie stellen Fragen, die innerhalb des Protestantismus ein für allemal autoritativ erledigt schienen, aufs neue; sie bestehen auf einer Wiederaufnahme des großen Prozesses, der um das Problem von Freiheit und Notwendigkeit, von Sittlichkeit und Religion durch die Jahrhunderte geführt worden war." [32]

Es ist in der Tat auffallend, dass der Neuplatonismus im 17. Jahrhundert noch einmal, wie schon im 15. Jahrhundert, als Medium, und in einer Traditionslinie außerhalb des christlichen Platonismus, herangezogen wird, um zentrale christliche Positionen infrage zu stellen, zumindest, um Potentiale an Ideen und Orientierungen offen zu halten. Mit der doppelten Opposition gegen Puritanismus auf religiösem Gebiet und sensualistischem Empirismus auf (natur-)wissenschaftlichem Gebiet kommt der Neuplatonismus in England ein weiteres Mal in das Spannungsfeld eines latenten Polytheismus auf der einen und Spiritismus oder Okkultismus auf der anderen Seite. In seinen 'kabbalistischen Axiomen' wendet sich Henry More gegen die christliche Grund-Position einer creatio ex nihilo und fordert zwischen der divina essentia, der göttlichen Wesenheit, und den materiellen Welten eine Vielzahl von Schöpfergöttern (deos terrarumque coelorumque creatores). In der Konzeption, die konkrete Materie aus dem Fall von geistigen Partikeln zu erklären (particula Divinae Essentiae, in Monadas Punctave Physica contractis et constipatis) [33] ergibt sich einerseits eine Verbindung zum Gnostizismus – anderseits aber auch zu Leibniz! Magie, Okkultismus und Spiritismus lassen sich ein weiteres Mal mühelos in den neuplatonischen Rahmen integrieren; ein gern geglaubter Spiritismus dient, wie über die Jahrhunderte, als ein 'Antidotus adversus Atheismum'. [34] Der Vernunftbegriff in den Grenzen der Religion und ein kabbalistischer Spiritismus scheinen sich für einem Henry More nicht auszuschließen.

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Als zusammenhängende Strömung ist der Neuplatonismus in der Neuzeit wohl nicht mehr auszumachen; dafür sind Elemente seiner religiösen Konzepte Verbindungen mit anderen Komplexen eingegangen. Blumenberg hat in seiner Akademieabhandlung 'Pseudoplatonismen in der Naturwissenschaft der frühen Neuzeit' [35] gezeigt, wie aus einer Uminterpretation der platonischen Theorie von der idealen Kugelform und idealen Kreisbewegung für Kopernikus eine Prämisse für die Reform seines Weltbildes erwächst. Die weitreichendste Präsenz haben neuplatonische Gedanken aber wahrscheinlich in den landläufigen europäischen Seelenvorstellungen. Der platonische Leib-Seele-Dualismus hat für die Interpretationsmuster von Wirkungszusammenhängen zwischen unterschiedlichen Seinsbereichen das größte Potential entfaltet: Die Muster reichen von der Frage nach der Rückwirkung des Gefäßes auf seinen Inhalt, des Geliebten auf den Liebenden, über Theorien von Wechselwirkung, Analogie, Imitation, Transformation, Isomorphie bis hin zu Konzepten für das Verhältnis von Geist und Materie, Substanz und Akzidenz, des Weltganzen zur Summe seiner Teile. Theorien von Wirkung, Wechselwirkung und Wirkung über Distanz – immer noch höchst aktuelle Probleme in den Naturwissenschaften – sind in der europäischen Wissenschaftsgeschichte vor allem vor dem Hintergrund des platonischen Dualismus entwickelt worden. Und auch die Negationen der Lösungen: "Nur durch Berührung, durch Berührung, ihr himmlischen Mächte" (tactus enim, tactus, pro divum numina sancta, corporis est sensus) ruft Lukrez emphatisch aus, [36] entsteht Wahrnehmung und vollziehen sich alle Prozesse. Materieller Kontakt ist die Basis dieses Atomismus, der Ausschluss von 'Fernwirkungen' Teil des aufklärerischen Konzepts, dem wohl nicht die Götter, aber doch die Religionen zum Opfer fallen. Zeitgenössische Entwürfe, die auf der Grenze zwischen Naturwissenschaften und 'Religion' anzusiedeln sind, produzieren ständig neue Muster und Modellvorstellungen in neuplatonischen Schemata: Rupert Sheldrake's morphogenetische Felder, transzendente, steuernde und speichernde Muster für das gesamte Universum, und Jean Charons 'neognostische Kosmologie', die den Geist omnipräsent in den Elektronen ansiedelt, sind aktuelle Beispiele dafür. [37]

Religion und die Wissenschaften von der Natur

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Bis zur Aufklärung wurden die sich allmählich etablierenden Wissenschaften von der Natur noch nicht generell als Gegeninstanzen zur Religion angesehen. Das Bestreben der führenden Naturwissenschaftler ist unverkennbar, die neuen Entdeckungen soweit als möglich innerhalb des christlichen Weltbildes anzusiedeln, ja sie als punktuelle Beweise für das Wirken Gottes in der Welt oder generell als Belege für die göttliche Einrichtung der Welt zu sehen.

Erst mit dem Ende der Aufklärung befinden sich christliche Theologien und Naturwissenschaften in einer 'kognitiven Systemkonkurrenz', [38] in deren Rahmen sich gegenseitig ausschließende Aussagen über 'Welt' gemacht werden können. Dabei spielt in den unterschiedlichen Rezeptions- und Ausgrenzungsschüben zunehmend eine Rolle, mit welcher religiösen oder theologischen Richtung naturwissenschaftliche Aussagen konkurrieren, umgekehrt schließlich auch, mit welchem Naturbegriff und Religionstyp sie kompatibel sind.

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Innerhalb der reformatorischen Theologie wurde, vor allem durch Luther im Gegensatz zu Calvin, eine Vorstellung der 'natura lapsa' entwickelt, die in der vom Menschen unbearbeiteten, 'wilden' Natur Ausdruck und Folge des menschlichen Sündenfalls sah. Dies ist die äußerste Position einer 'Entgötterung der Natur', ein Prozess der mit Augustinus’ programmatischer Zurückweisung beginnt, Gott oder Götter in der 'Natur' zu finden: [39] Die Naturbereiche, Erde, Tiere, Meer und Luft weisen mit einem 'quaere supra nos' eine Suche nach Gott von sich weg – und schließen damit den antiken Polytheismus als wahre Religion aus. Thomas Burnets 'Telluris Theoria Sacra' von 1681 ist eine Reaktion auf die Lutheranische Position, in deren Konsequenz schließlich auch eine Physikotheologie steht: [40] Unmittelbar vor der Aufklärung lässt sich in der Physikotheologie noch einmal extensive (natur-)wissenschaftliche Forschung mit christlicher Theologie vereinbaren. Selbst die öffentlich präsentierten Experimente dienen dazu, die göttliche Einrichtung der Welt zu belegen, – einer Welt, an deren Vervollkommnung die Menschen mitwirken sollen: Die Vorstellung einer Perfektibilität von Welt vereint hier gleichsam mühelos Naturerkenntnis und Religion. Einzelne Entdeckungen oder Forschungsfelder können in kühnen Vorstößen unmittelbar zur Interpretation der Bibel herangezogen werden: Erkenntnisse über Elektrizität und Magnetismus münden in eine 'Theologie der Elektrizität' (E.Benz), die nun die antike Tradition einer Lichtmetaphysik zu ersetzen sucht. [41]

Eine andere europäische Tradition beruft sich auf das aus Genesis 1, 26-28 entwickelte 'dominium terrae' als Erfüllung eines göttlichen Auftrags: "Machet Euch die Erde untertan!" Dieser 'Herrschaftsauftrag' bekommt in der spezifischen Verbindung einer Desakralisierung der Natur mit einer monastischen 'Arbeitsethik' dramatische Konsequenzen: In einer akzentuierten und heftig umstrittenen These "The Historical Roots of our Ecological Crisis" hatte Lynn White in einem Beitrag von 1967 [42] die aktuellen ökologischen Probleme auf eine mittelalterliche Applikation der alttestamentlichen Schöpfungstexte zurückgeführt. Die konkreten Folgen einer 'Ausbeutung der Natur' werden so in das Zentrum der Europäischen Religionsgeschichte gerückt.

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Mit der Aufklärung kulminieren die Konflikte zwischen christlich-theologischen Aussagen über die Welt und naturwissenschaftlichen, in deren Folge sich der 'Verdrängungswettbewerb' zwischen Religion und Wissenschaft zuungunsten von 'Religion' zu entscheiden schien. Die auf den unterschiedlichen Ebenen geführten Kontroversen über ein 'Erkenntnismonopol' [43] führten in der Folgezeit dazu, dass einzelne Gegenstände aus dem Kompetenzbereich bestimmter Religionen, nicht aber von 'Religion' überhaupt herausfielen. Das führt dazu, dass sich in Europa im Umkreis der Aufklärung Religionsbegriff und Religionstyp sukzessiv verändern und von einer Wette über die Existenz Gottes (le pari de Pascal) [44] bis zu einem Pantheismus im Gewande eines 'höflichen Atheismus' (Schopenhauer) reichen können. Dies gilt insbesondere für die Naturphilosophie der deutschen Romantik, in deren Spektrum sich neuplatonische, stoische und hermetische Elemente der Renaissance-Wissenschaften in einem neuen religiösen Kontext wiederfinden. [45] Wenn Naturphilosophie als "Wissenschaft von der ewigen Verwandlung Gottes in die Welt" definiert wird und Carl Gustav Carus in seiner Rede auf der ersten 'Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte' von 1822 hierin die Grundlage für "Anforderungen an eine künftige Bearbeitung der Naturwissenschaften" sieht, werden damit alle die Traditionen einer Europäischen Religionsgeschichte wieder aufgerufen, die Naturmystik, Naturphilosophie und einen romantischen Pantheismus unter der Rezeption unterschiedlichster Kontexte begleitet hatten.

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Die Versuche, noch einmal Naturforschung und (christliche) Religion unter einer romantischen Prämisse zu versöhnen, brechen um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem 'Materialismusstreit' in der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte zusammen. [46] In dieser Diskussion, an der sich die führenden Naturwissenschaftler und Ärzte der Zeit beteiligen, werden die allgemeinsten Modelle, Einzelforschung und eine 'höhere Ordnung' zusammenzusehen, in den verschiedensten Variationen durchgespielt. Die großen Alternativen dieser Kontroversen bleiben bis in die Gegenwart präsent: Ein neognostischer Dualismus von Geist und Materie, ein Monismus – an den 'Vorsokratikern' entwickelt und von Ernst Haeckel als Ausgangspunkt seiner neuen 'Naturreligion' propagiert – und schließlich wieder jener Pantheismus, zu dem sich später Albert Einstein mehrfach bekannt hat: "Jene mit tiefem Gefühl verbundene Überzeugung von der Vernunft, die sich mit der erfahrbaren Welt offenbart, bildet meinen Gottesbegriff; man kann ihn also in der üblichen Ausdrucksweise als pantheistisch (Spinoza) bezeichnen." [47] Einstein geht in seinem Bestreben, Wissenschaft und Religion wieder zusammenzuführen, noch über das traditionelle pantheistische Muster hinaus und generiert – wenn man so will – einen neuen 'Religionstyp': die kosmische Religion. Eine 'kosmische Religiosität' sei den religiösen Genies aller Zeiten gemeinsam gewesen, die die einfacheren Stufen von Religion überwunden hätte. [48]

In Einsteins 'Drei-Stadien-Modell' verkörpert die kosmische Religion, nach Furchtreligion und Moralreligion, die höchste Stufe von Religiosität, sie "zu erwecken und lebendig zu halten" sei die "wichtigste Funktion der Kunst und der Wissenschaft."

Charakteristika und Trends

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Zu der hohen Komplexität, die die Europäische Religionsgeschichte auszeichnet, hat vor allem eine Professionalisierung der christlichen Religion im Medium von Wissenschaften beigetragen, zunächst im Rahmen der antiken und mittelalterlichen Philosophie, dann mit Hilfe der humanistischen Disziplinen und der Renaissance-Wissenschaften. Eine frühe Wirkung der Professionalisierung des Christentums liegt in der Erzeugung eines eigenen Religionsbegriffs, der durch eine 'Singularisierung' und daran anschließend durch eine korrespondierende Exklusivität charakterisiert ist. Unter diesen Bedingungen kann 'ein' Mensch immer nur 'eine' Religion haben – und diese 'eine' Religion kann dann von Gesetzes wegen verordnet werden: "Cunctos populos ... in tali volumus religione versari, quam divinum Petrum apostolum tradidisse Romanis religio usque ad nunc ab ipso insinuata declarat ...". [49] Als Flavius Claudius Iulianus, den die Christen später Julian Apostata nannten, in seinem Restaurationsversuch die traditionellen paganen ('heidnischen') Kulte wie eine Religion dem 'einen' Christentum gegenüberstellen wollte, fehlt ihm dafür ein 'Sammelbegriff'. Er muss diesen als strategischen Begriff erst erzeugen: Es ist 'Hellenismos' als ein komplementärer Anspruch, die antiken Kulte wie eine Religion zusammenfassen zu können.

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Mit dieser weiterwirkenden professionellen Singularisierung von Religion sind für die Folgezeit, bis hin zur Renaissance, Pluralisierungen des religiösen Feldes zumindest theoretisch ausgeschlossen. Da Kumulationen von Religionen grundsätzlich 'undenkbar' waren, läuft eine Klassifikation für einen freien Wechsel religiöser Systeme über die dramatischen und inkrimierten Begriffe wie Konversion, Häresie und Apostasie. Mit einem zunehmenden Verlust von Lebensbereichen, für die die großen Religionen ursprünglich Sicherheit versprochen hatten, fallen freilich – unter unterschiedlichen sozialen und politischen Bedingungen – immer mehr Bereiche des individuellen Lebens aus dem Bereich von 'Religion' heraus. Die Problemzone von Säkularisierungsprozessen läuft nicht nur zwischen Wissenschaften und Religion, sondern in abgewandelter Form bereits zwischen Staat und Religion. Eine staatliche Sekurisierung gegen Überfälle, Feuerbrünste und Hungersnöte löst bereits seit den altorientalischen Stadtstaaten individuelle oder kollektive religiöse Rituale einer Kontingenzbewältigung ab. Die Staatsidee des Imperium Romanum hat neben 'pax' und 'libertas' den Bürgern auch 'securitas' garantiert, in der Reichsidee der christlichen Kaiser stehen, mit Gott als 'protector', der 'Schutz von Frieden und Sicherheit' im Vordergrund. Mit der Renaissance wird die 'securitas publica' unter die säkularen Staatsziele subsumiert und geht im 17. und 18. Jahrhundert als 'gemeine Wohlfahrt und Sicherheit' in die politischen Theorien ein.

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Ein Funktionswandel von Religion ist offensichtlich ein konstitutives Element der Europäischen Religionsgeschichte, ohne dass jedoch dieser Wandel zugleich eine 'Verlustgeschichte' vorgeben muss. Eine Kritik der für Europa erzeugten Säkularisationsthese hat zunehmend deutlicher werden lassen, dass mit einer Individualisierung von Religion zwar – und gewissermaßen zwangsläufig – ein Verlust einer professionallen Kontrolle einherläuft. Mit einem 'deregulierten religiösen Markt' ist aber eine Pluralisierung verbunden, die nun nicht nur einen 'innerkonfessionellen' Pluralismus ermöglicht, sondern auch einen Pluralismus in der Nutzung von Sinnsystemen überhaupt. Dabei wird zunehmend deutlicher, dass sich das Spektrum applizierbarer religiöser Muster erheblich erweitert hat: Es reicht von einer Bewältigung der Kontingenzen des Alltags bis hin zu 'long term investments', deren Erfolg sich erst nach einer unabsehbar langen Zeit zeigen wird. Das dramatisch Neue in der Europäischen Religionsgeschichte ist nicht so sehr ein Pluralismus von Religionen, sondern ein 'problemloser' Pluralismus von Religionstypen.

Autor:

Prof. Dr. Burkhard Gladigow
Universität Tübingen
Abteilung für Religionswissenschaft
Beim Kupferhammer 5
72020 Tübingen
burkhard.gladigow@uni-tuebingen.de



[1] Carl Clemen: Religionsgeschichte Europas, 2 Bde. Heidelberg 1926/1931; Günter Lanczkowski: Religionsgeschichte Europas, Freiburg 1971; Christoph Elsas: Religionsgeschichte Europas. Religiöses Leben von der Vorgeschichte bis zur Gegenwart, Darmstadt 2002.

[2] Zu den Veränderungen des religiösen Szenarios Burkhard Gladigow: Andere Welten – andere Religionen?, in: Fritz Stolz (Hg.): Religiöse Wahrnehmung der Welt, Zürich 1988, 245-273.

[3] Christopher M. Woodhouse: George Gemistos Plethon. The Last of the Hellenes, Oxford 1986; Georgios Gemistos Plethon: Politik: Philosophie und Rhetorik im spätbyzantinischen Reich (1355-1452), übersetzt und erläutert v. Wilhelm Blum, Stuttgart 1991.

[4] Georgios Gemistos Plethon: Nomon syngraphe – Traité des lois. Trad. Charles Alexandre (ed. Rémi Brague), Paris 1982; zum konzeptionellen Rahmen gut Norbert Wokart: "Hellenische Theologie". Die Religionsreform des Georgios Gemistos Plethon, in: Richard Faber / Renate Schlesier (Hg.): Die Restauration der Götter, Würzburg 1988, 183-197.

[5] Platon, Nomoi 799 a 5ff. Zur Gründung von Vernunft auf Polytheismus: Wokart: Hellenische Theologie (wie Anm. 4), 194f.

[6] Schön geschildert bei Wolfgang Freiherr von Löhneysen: Mistra. Griechenlands Schicksal im Mittelalter, München 1977, 196ff.

[7] Peri hon Aristoteles pros Platona diapheretai. J.-P. Migne: Patrologia Graeca 160, 881-934.

[8] Zu Ficinos Ort in der Europäischen Religionsgeschichte Burkhard Gladigow: Religio docta bei Marsilio Ficino. Religion, Erfahrung, Wissenschaft, in: Walter Haug / Dietmar Mieth (Hg.): Modelle religiöser Erfahrung, München 1992, 275-285.

[9] Theologia Platonica XIV c.1. Zum wissenschafts- und kulturgeschichtlichen Rahmen Eugenio Garin: La cultura filosofica del Rinascimento italiano. Ricerche e documenti, 2. Aufl., Florenz 1979.

[10] Theologia Platonica XV c.XIII.

[11] De Christiana religione c.IV.

[12] Auch in den folgenden Schriften behält Ficino dieses Schema kontinuierlicher Offenbarungen bei, erweitert die Namen noch nach vorn um Zoroaster (unter Wegfall des Philolaos) und stellt einen Vorfahren des Mercurius als Zeitgenossen des Moses hin, wozu Gladigow: Religio docta (wie Anm. 8), 275-285. Eine auffallende Erweiterung dieser 'Offenbarungstradition' liegt in der Nennung Zarathustras, ausführlich behandelt bei Michael Stausberg: Faszination Zarathushtra. Zoroaster und die Europäische Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit (= Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 42, 1), Berlin / New York 1998, 93-136.

[13] In einem Brief an Johannes Pannonius und im Proömium seiner Plotin-Übersetzung; Op. 871 ff.; Op. 1537.

[14] Eine Geschichte religiöser Professionalisierung (in deren Rahmen eine Theologisierung nur einen Sonderfall darstellt) muss erst noch geschrieben werden. Erste Überblicke aus unterschiedlichen Perspektiven bei Victor W. Turner: Religious Specialists, in: International Encyclopedia of the Social Sciences 13, New York 1968, 335-444; Michael Winkelman: Magico-Religious Practioner Types and Socioeconomic Conditions, in: Behaviour Science Research 20 (1986), 17-46; Wolfgang Marhold / Udo Bußmann / Theodor Eikelmann: Religion als Beruf, 2 Bde., Stuttgart 1977.

[15] Marsilio Ficino: Opera omnia, Basel 1576 vol. I, 933. Zu dieser singulären Reflexion Ficinos Burkhard Gladigow: Lectores ad priscum cultum revocare. Popularisierte Religion oder narrative Religionswissenschaft, in: Hildegard Piegeler / Inken Prohl / Stefan Rademacher (Hg.): Gelebte Religionen. Festschrift für Hartmut Zinser, Würzburg 2004, 17-26.

[16] Herfried Münkler (Hg.): Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit (Studien und Materialien der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Die Herausforderung durch das Fremde der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften), Berlin 1997.

[17] Jacques Solé: Christliche Mythen. Von der Renaissance bis zur Aufklärung, Frankfurt a. M. 1982, 14.

[18] Zur Bedeutung von La Peyrère D. Rice McKee: La Peyrère, a Precursor of 18th Century Critical Deists (= Publications of the Modern Languages Association 62, 2), New York 1944.

[19] Dazu Hans G. Kippenberg: Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, München 1997.

[20] Friedrich Tenbruck: Die Religion im Maelstrom der Reflexion, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft Religion und Kultur, Opladen 1993, 31-67.

[21] Burkhard Gladigow: Europäische Nativismen und Bilder der Antike, in: Holger Preißler / Hubert Seiwert (Hg.): Gnosisforschung und Religionsgeschichte. Festschrift Kurt Rudolph, Marburg 1995, 421-433.

[22] Petrarca, Fam. VI 2 (Rossi II 58); vgl. Karlheinz Stierle: Renaissance. Die Entstehung eines Epochenbegriffs aus dem Geist des 19. Jahrhunderts, in: Reinhart Herzog / Reinhart Koselleck (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein (= Poetik und Hermeneutik XII), München 1987, 453-482; Konrad Burdach: Reformation, Renaissance, Humanismus. Zwei Abhandlungen über die Grundlage moderner Bildung und Sprachkunst, 2. Aufl., Berlin / Leipzig 1926 (ND 1978).

[23] Ulrich Gaier, Goethes Faust-Dichtungen, Stuttgart 1989, 333.

[24] Zur 'Tetraktys' als Quelle der Natur Eduard Zeller: Die Philosophie der Griechen I, 1 (1919), Darmstadt 1963, 505.

[25] Belege bei Zeller: Philosophie der Griechen 1 (wie Anm. 24), 505, Anm. 3.

[26] Dazu im weiteren Rahmen Burkhard Gladigow: Vom Naturgeheimnis zum Welträtsel, in: Jan und Aleida Assmann (Hg.): Schleier und Schwelle III, München 1999, 77-97.

[27] Gaier: Goethes Faust-Dichtungen (wie Anm. 23), 333.

[28] In weiterem Rahmen interpretiert bei Burkhard Gladigow: Von der Lesbarkeit der Religion zum iconic turn, in: Günter Thomas (Hg.): Religiöse Funktionen des Fernsehens?, Wiesbaden 2000, 107-124.

[29] Theodor Birt: Die Buchrolle in der Kunst, Leipzig 1907, 155ff.; Ludwig Muth: Lesen - ein Heilsweg. Vom religiösen Sinn des Buches, Freiburg o. J., 30ff.

[30] Den besten Überblick über den religionshistorischen Rahmen bietet Ernst Cassirer: Die platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge. Studien der Bibliothek Warburg, Leipzig 1932. Vgl. ferner Gerald R. Cragg: The Cambridge Platonists, New York 1968; Frederick Powicke: The Cambridge Platonists. A Study, Hildesheim 1970; Rupert Hall: Henry More. Magic, Religion and Experiment, Oxford 1990; Stefan Weyer: Die Cambridge Platonists. Religion und Freiheit in England im 17. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1993.

[31] Ralph Cudworth: The True Intellectual System of the Universe, Book I, Cap. 5, fol. 858f.; Übersetzung von Cassirer: Die Platonische Renaissance (wie Anm. 30), 97.

[32] Cassirer: Die Platonische Renaissance (wie Anm. 30), 86.

[33] Henry More: Opera Omnia II, 1, 521-528.

[34] Henry More: Opera Omnia II, 1, 93ff.

[35] Hans Blumenberg: Pseudoplatonismen in der Naturwissenschaft der frühen Neuzeit (= Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftliche Klasse 1971, 1), Mainz 1971, 3-34.

[36] Lukrez: De rerum natura 2, 434.

[37] Zusammenstellung dieser 'Religionen der Physiker' bei Burkhard Gladigow: Pantheismus als 'Religion' von Naturwissenschaftlern, in: Peter Antes / Donata Pahnke (Hg.): Die Religion von Oberschichten, Marburg 1989, 219-239.

[38] Friedrich Tenbruck: "Wissenschaft und Religion", in: Jakobus Wössner (Hg.), Religion im Umbruch, Stuttgart 1972, 217-244 und ders.: Die Religion im Maelstrom der Reflexion, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft Religion und Kultur, Opladen 1993, 31-67.

[39] Augustinus: Confessiones 10, 6.

[40] Zu einzelnen Perspektiven Udo Krolzik: Das physikotheologische Naturverständnis und sein Einfluß auf das naturwissenschaftliche Denken im 18.Jahrhundert, in: Medizinhistorisches Journal 15 (1980), 90-102; Richard Toellner: Die Bedeutung des physico-theologischen Gottesbeweises für die nachcartesianische Physiologie im 18. Jahrhundert, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 5 (1982), 75-82. Überblicke bieten Wolfgang Philipp: Das Werden der Aufklärung in theologiegeschichtlicher Sicht, Göttingen 1957; Udo Krolzik: Säkularisierung der Natur. Providentia-Dei-Lehre und Naturverständnis der Frühaufklärung, Neukirchen 1988 und Matthias Schramm: Natur ohne Sinn? Das Ende des teleologischen Weltbildes, Graz 1985.

[41] Ernst Benz: Theologie der Elektrizität. Zur Begegnung und Auseinandersetzung von Theologie und Naturwissenschaft im 17. und 18. Jahrhundert (= Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse 1970, 12), Mainz 1971; Dieter Bremer: Hinweise zum griechischen Ursprung und zur europäischen Geschichte der Lichtmetaphysik, in: Archiv für Begriffsgeschichte 17 (1973), 7-35.

[42] Heike Baranzke / Hedwig Lamberty-Zielinski: Lynn White und das dominium terrae (Gen 1, 28b). Ein Beitrag zu einer doppelten Wirkungsgeschichte, in: Biblische Notizen 76 (1995), 32-61. Zur Geschichte der Deutung David Jobling: "And have dominium ...", The Interpretation of Old Testament Texts Concerning Man's Rule over the Creation, New York 1972.

[43] Überblicke aus unterschiedlichen Perspektiven: Ian G. Barbour: Wissenschaft und Glaube. Historische und zeitgenössische Aspekte (= Religion, Theologie und Naturwissenschaften 1), Göttingen 2003; Langdon Gilkey: Religion and Science in an Advanced Scientific Culture, Boston 1983; Harold P. Nebelsick: Renaissance and Reformation and the Rise of Science, Edinburgh 1992; Colin A. Russell (Hg.): Science and Religious Belief: A Selection of Recent Historical Studies, London 1973, Friedrich Tenbruck: Wissenschaft und Religion, in: Jakobus Wössner (Hg.): Religion im Umbruch, Stuttgart 1972, 217-244.

[44] Jeff Jordan (Hg.): Gambling on God: Essays of Pacal's Wager, Lanham (MD) 1994; Peter L. Bernstein: Wider die Götter. Die Geschichte von Risiko und Riskmanagement von der Antike bis heute, München 1997.

[45] Zu den unterschiedlichen Rezeptionsmustern der Romantik Kurt Nowak: Schleiermacher und die Frühromantik. Eine literaturgeschichtliche Studie zum romantischen Religionsverständnis und Menschenbild am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Göttingen 1986; E. Douka Kabitoglou: Plato and the English Romantics, London 1990; Michael Ley / Leander Kaiser (Hg.): Von der Romantik zur ästhetischen Religion, München 2004.

[46] Zu den Rahmenbedingungen Heinrich Schipperges: Weltbild und Wissenschaft, Hildesheim 1976, 7-25; Heinz Degen: Die Entwicklung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte in der Spätromantik bis zur Münchener Versammlung 1827, in: Naturwissenschaftliche Umschau 9 (1956), 185-193; Rolf Kuschel: Anti-materialistische Medizin und ihr Verhältnis zur Religion im 19. Jahrhundert. Dargestellt anhand der Versammlungen Deutscher Naturforscher und Ärzte, Diss.med. Lübeck 1979. Systematisch zum Wissenschaftsverständnis Georg Kamphausen / Thomas Schnelle: Die Romantik als naturwissenschaftliche Bewegung (= Report Wissenschaftsforschung 14), Bielefeld 1979.

[47] Wiederabgedruckt in: Albert Einstein: Mein Weltbild, hg. von Carl Seelig, Frankfurt a. M. 1980, 171; zur Interpretation Burkhard Gladigow: "Wir gläubigen Physiker". Zur Religionsgeschichte physikalischer Entwicklungen im 20. Jahrhundert, in: Hartmut Zinser (Hg.): Der Untergang von Religionen, Berlin 1986, 323ff.

[48] In einem am 11. November 1930 im Berliner Tagblatt erschienenen Essay "Religion und Wissenschaft"; wiederabgedruckt in: Einstein: Mein Weltbild (wie Anm. 47), 15-18.

[49] Codex Theodosianus 16, 1, 2 vom Februar 380 v. Chr.

Empfohlene Zitierweise:

Burkhard Gladigow : Europäische Religionsgeschichte seit der Renaissance , in: zeitenblicke 5 (2006), Nr. 1, [04.04.2006], URL: https://www.zeitenblicke.de/2006/1/Gladigow/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-2866

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