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Die Stadt München sowie die Münchner Akademie der Bildenden Künste hatten im 19. Jahrhundert für die böhmische Architektur nicht die Schlüsselbedeutung, die Wien und der Wiener Akademie zukam. Die bekanntesten Architekten aus Böhmen hatten zuerst auf dem Polytechnikum oder auf der Kunstakademie in Prag, dann bei Eduard van der Nüll und Alexander Sicard von Sicardsburg in Wien studiert und schließlich die obligate Reise nach Italien und Westeuropa unternommen. Das war der Fall bei Anton (Antonín) Barvitius (1823-1901), Josef Hlávka (1831-1908), Josef Zítek (1832-1909) und Josef Schulz (1840-1917). In ihrem Werk können wir kaum einen nennenswerten Widerhall der Münchner Architektur finden.

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Die einzige Ausnahme war in dieser Hinsicht Ignaz (Ignác) Ullmann (1822-1897). Er war der erste Protagonist der beginnenden Neorenaissance in Böhmen. Sein Werk ist ein bedeutendes Dokument für die politische und kulturelle Emanzipation des Prager tschechisch-deutschen Bürgertums, welches die vorhergehende wirtschaftliche und kulturelle Rückständigkeit überwunden hatte und durch elegante Neorenaissancebauten seine Zugehörigkeit zur internationalen liberalen Bourgeoisie zum Ausdruck brachte. In Ullmanns offizieller Lebensbeschreibung lesen wir: "Seine Vorbildung genoss er am Wiener Polytechnikum, dann an der Akademie der bildenden Künste und besuchte hierauf die Akademie in München, um sich in seinem Fache als Architekt hervorragende Kenntnisse und Erfahrungen [zu] eigen zu machen." [1] Der Münchner Aufenthalt hinterließ aber keine bedeutenden Spuren in seinem Werk. Nur teilweise können wir Ullmanns Version des Rundbogenstils mit diesem Einfluss verbinden. [2] Eine größere Anziehungskraft hatte München für die deutsch-böhmischen Architekten. Zum Beispiel hatte Friedrich Kick (1867-1945), der später Professor an der deutschen Technischen Hochschule in Prag wurde, hier ein Jahr verbracht, bevor er sein Studium an der Wiener Akademie vollendete. [3]

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Ein bedeutendes Kapitel in der Architekturgeschichte Böhmens stellt aber das dortige Wirken von Münchner Architekten dar. Der erste unter ihnen war Klenzes Schüler Johann Gottfried Gutensohn (1792-1851). Angeblich hielt man ihn für den "begabtesten Architekten Bayerns", ehe ihn die Intrigen seines Lehrers bewogen, im Jahre 1839 nach Prag überzusiedeln. [4] Dort unterrichtete er bis 1844 an der Akademie der bildenden Künste. Das wichtigste Werk von Gutensohn auf böhmischem Territorium ist die Mariä-Himmelfahrtskirche in Marienbad/Mariánské Lázně (1844-1848), die in ungewohnter Weise über oktogonalem Grundriss erbaut wurde. [5] Ein weiterer Münchner Architekt, der in Böhmen ein Werk hinterließ, war Theodor Fischer (1862-1938). Ihm verdankte Prag den Zuckerindustriepalast auf dem Heumarkt, zu dessen Errichtung sich der Assekuranzverein der Zuckerindustrie im Jahre 1911 entschlossen und dafür ein Baugrundstück in der Nähe des Heinrichsturms erworben hatte. Zum Projektwettbewerb im folgenden Jahr wurden außer Fischer noch sechs österreichische und reichsdeutsche Architekten aufgerufen, darunter die Prager Friedrich Kick und Josef Zasche, der Wiener Leopold Bauer und angeblich auch, als zweiter Süddeutscher, Emanuel Seidl. Die Lösung der durch den unregelmäßigen Grundriss erschwerten Aufgabe gelang Theodor Fischer am besten (Abb. 1 und 2); Zasche folgte mit geringem Abstand auf Platz zwei, und so wurde die Ausarbeitung der endgültigen Pläne beiden Architekten anvertraut. Da sich Fischer diesem Auftrag nicht im erforderlichen Maße widmen konnte, wurde die Arbeit schließlich Zasche allein übertragen. [6]

Abb. 1

Abb. 2

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In Prag wirkte über lange Jahre auch der bayerische Architekt Bernhard Grueber. Seine Lebensgeschichte belegt anschaulich die Rolle nationaler Vorurteile in der geistigen Kultur Böhmens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bernhard Grueber kam im Frühjahr 1845 von Regensburg, wo er zwölf Jahre lang am Polytechnikum unterrichtet und die Vorarbeiten für die Restaurierung des gotischen Domes geleitet hatte, nach Böhmen. Ursprünglich stammte er aus dem schwäbischen Donauwörth, wo er am 27. März 1806 geboren worden war. Er wuchs in München auf und erhielt an der dortigen Akademie der bildenden Künste auch seine Ausbildung. Zunächst belegte er Kurse in der Malereiklasse, "aber eine Rheinfahrt öffnet ihm Herz und Sinn für die kühne Prachtentfaltung mittelalterlicher Baukunst und er erwählt die Architektur zum Lebensberuf".  [7] An der Schule wechselte er die Staffelei gegen das Reißbrett. Seine Lehrjahre gipfelten in der Zusammenarbeit mit dem bedeutenden Architekten Daniel Ohlmüller, dem er beim Bau der Marienkirche in der Münchener Vorstadt Au zur Hand war. "Die Uebersiedlung nach Prag brachte ihm kein Heil", bemerkt später der Verfasser seiner Lebensbeschreibung, Carl Lind. [8] Der Architekt trotzte jedoch mutig der "Tücke des Schicksals" und füllte seinen Aufenthalt in Böhmen mit emsiger Tätigkeit aus. Ein Artikel im Wurzbach-Lexikon von 1859 zählt Gruebers wichtigste Aufträge auf, allesamt Pionierwerke der neogotischen Architektur im Lande: die Hauptschule in Tetschen/Děčín, die Friedhofskapelle mit der Gruft der Familie Berger in St. Johann/Svatý Jan pod Skalou (Abb. 3), das Aehrental-Palais in Prag, die Marienkirche in Turnau/Turnov (Abb. 4 und 5), Umbauten der Schlösser in Blatna/Blatná, Worlik/Orlík, Sichrov/Sychrov und Groß-Skal/Hrubá Skála, die Gruft in Politschan/Bílé Poličany, die Südfront des Altstädter Rathauses und den Sockel des Radetzky-Denkmals in Prag (Abb. 6) sowie die Renovierung der St.-Barbara-Kirche in Kuttenberg/Kutná Hora. [9] Das Projektieren bildete aber nur einen Teil der Tätigkeit Gruebers. Mit vielen bedeutenden Architekten der spätromantischen Generation teilte er nicht nur das Interesse an Aufgaben der Denkmalerneuerung, sondern auch den Hang zu archäologischen Forschungen. In diesem Fachgebiet sah er selbst seine eigentliche Sendung: "Die Arbeit eines Menschenalters, welche ich als Hauptaufgabe meines Lebens betrachtet und der zu liebe ich mehrere hundert Reisen unternommen habe", so präsentierte er sein der mittelalterlichen Kunst in Böhmen gewidmetes vierbändiges historisches Werk, das in Wien im Laufe der Jahre 1871-1879 erschien. [10] Dieses Werk stellt eine erste systematische und relativ geschlossene Bearbeitung der Architektur, Malerei und Skulptur der zeitweiligen Heimat Gruebers dar.

Abb. 3

Abb. 4

Abb. 5

Abb. 6

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Mit seinen Forschungen zur Geschichte der böhmischen Kunst begann Bernhard Grueber Anfang der fünfziger Jahre. "Ich durchpilgerte Böhmen zu Fusse so zu sagen von Dorf zu Dorf, besuchte manches Kunstwerk zehn und zwölfmal, bis ich mich genügend aufgeklärt fühlte", so beschrieb er im Rückblick seine Vorgehensweise. [11] Das erste Ergebnis seiner Bemühungen war ein knapper Überblick über die böhmischen Baudenkmäler, abgedruckt in den Nachrichten der Wiener Denkmalkommission im Jahre 1856 (Abb. 7). [12] Seine vorläufigen Urteile ergänzte, präzisierte und korrigierte der Autor dann in einer Reihe von monografischen Artikeln, veröffentlicht größtenteils in den ’Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen’. Die Themen waren vielfältig: die Kaiserpfalz in Eger/Cheb, die Bautätigkeit Karls IV. oder der Herren von Rosenberg, das Schaffen der Prager Junkherren, das deutsche und das slawische Wohnhaus in Böhmen und anderes mehr. [13] An seinem Lebensabend konnte Grueber seine Abhandlung über die Renaissancearchitektur Böhmens abschließen, die dann in einem enzyklopädischen Überblick bei Wilhelm Lübke ihre Veröffentlichung fand. [14]

Abb. 7

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Besondere Aufmerksamkeit verwendete er auf die St.-Veits-Kathedrale in Prag (Abb. 8) und deren Erbauer, darunter vor allem Peter Parler (Abb. 9). Neben ausführlichen Passagen in seinem Hauptwerk widmete er diesem Thema zwei selbständige Schriften. [15] Seine Darstellung des Schlüsselwerkes der mittelalterlichen Baukunst Böhmens ist eine wertvolle Quelle für das Studium der mit dem Auftreten der romantischen Neogotik in Böhmen verbundenen Denkungsart. Sie zeigt, unter welch’ schwierigen Umständen und Voreingenommenheiten und in welchem historischen Kontext damals die entferntere Vergangenheit gesehen wurde.

Abb. 8

Abb. 9

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Die Veröffentlichung seiner Schriften brachte Grueber in Böhmen wenig Anerkennung ein. Dass im Ausland sein Hauptwerk "mit unendlicher Dankbarkeit, die Gründlichkeit des Verfassers bewundernd" aufgenommen wurde und die Beurteilung Anton Heinrich Springers in "innige Lobpreisung" einmündete, wirkte sich für ihn eher belastend aus. [16] Die tschechische Fachöffentlichkeit erkannte zwar an, dass das Werk "die erste Abfassung der Kunstgeschichte in Böhmen" darstelle, war jedoch zutiefst über "ein Meer unseliger Forschungen und niederträchtiger Urteile Gruebers" erbittert und fand in dem Buch nur "Seichtheit, Oberflächlichkeit, Flüchtigkeit". [17] Dem Autor sind in seiner Arbeit manche Irrtümer unterlaufen, was bei solch einem ehrgeizigen Unternehmen kaum überraschen kann; seine Kritiker griffen aber auch Beobachtungen oder Wertungen an, deren Richtigkeit spätere Forschungen bestätigen sollten. Die damaligen Kritiker waren ganz offensichtlich voreingenommen, und es ist unbestritten, dass weit mehr als wirkliche Fehler der ideelle Ausgangspunkt des Werkes ihren Ärger erregte, nämlich die darin ausgesprochene Überzeugung von der Abhängigkeit der tschechischen Kultur von deutschen Einflüssen.

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"Bewusster und absichtlicher Negierer der heimischen Kunst" [18] schien Grueber den tschechischen Historikern schon deshalb zu sein, weil er den alten Slawen nur Holzbauten zuerkannte und die ältesten architektonischen Denkmäler in Böhmen für provinziell, barbarisch und verspätet hielt. Eine Neigung, die Rolle deutscher Künstler überzubewerten, fanden seine Kritiker auch in den der gotischen Architektur gewidmeten Teilen seines Werkes. Als sich seine These, "aus Matthias, gebürtig aus dem französischen Arras, einen Niederdeutschen zu machen", nicht länger aufrecht erhalten ließ, habe sich Grueber dem Bestreben deutscher Historiker angeschlossen, "die Beteiligung Matthias' womöglich zu verringern, um die Verdienste Peter Parlers zu vermehren". [19] In dem entfachten Streit hoben seine Gegner die Persönlichkeit Matthias' von Arras hervor, um das übliche Modell der deutschen kulturellen Überlegenheit zu schwächen.

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So war zum Beispiel der Historiker Josef Kalousek überzeugt, dass Peters Vater aus Polen stammte und der Prager Haushalt des Architekten eher tschechisch als deutsch geprägt gewesen wäre. [20] Grueber gestand zwar ein, dass Peter Tschechisch beherrschte, und bezeichnete Matthias bald als einen flämischen, bald als einen französischen Künstler, die St.-Veits-Kathedrale galt ihm jedoch eindeutig als Ausdruck deutschen Geistes. Seine deutschnationale Gesinnung stand außer Zweifel. Bernhard Grueber war Sohn seiner Zeit, und die romantische Begeisterung für die Sache des eigenen Volkes war für seine Forschungen ein mächtiger Antrieb. Dasselbe galt natürlich für seine Gegner unter den tschechischen Historikern. Ihre Angriffe gegen das Werk Gruebers ersetzten nicht die Unzulänglichkeiten seiner Darstellung durch eine wahrheitsgemäßere Deutung. In dem Streit stießen vielmehr zwei verschiedene, durch nationale Ideologien gefärbte Ansichten aufeinander. Der Versuch einer abwägenden Beurteilung wäre wenig fruchtbringend. Größeren Nutzen brächte hingegen eine Klärung von Gruebers Standpunkt. [21]

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Gruebers Nationalbewusstsein formte sich in den komplizierten Verhältnissen des Vormärzes, nachdem durch die Niederlage Napoleons der Nationalgedanke in Deutschland gestärkt worden war, zugleich jedoch ein Rückfall in die kleinstaatlichen Verhältnisse stattgefunden hatte. Unter dem Einfluss patriotischer Literaten und Gebildeter wie Sulpiz Boisserée, Ernst Moritz Arndt, Clemens Brentano und Claudius Lassaulx wuchs in Grueber die Sehnsucht nach einer nationalen und politischen Vereinigung seiner Heimat. Seine gefühlsmäßige Haltung zeichnete sich einmal durch die Überzeugung von der Überlegenheit schöpferischer Fähigkeiten und moralischer Werte der Deutschen aus, zum anderen durch die fixe Idee einer erbitterten Feindschaft, welche die Bewohner umliegender Länder gegen die Deutschen hegen sollten. Zu den Feinden Deutschlands zählte Grueber die Franzosen, Russen, Italiener, Dänen und selbstverständlich auch die Slawen. Diese waren für ihn Eindringlinge, die in der Zeit der Völkerwanderung nach Mitteleuropa gezogen wären und die dort ursprünglich ansässige germanische Bevölkerung in die bergigen Randzonen verdrängt hätten. [22] Die Slawen galten ihm als Bauernvolk, das städtische Siedlungen, handwerkliche Produktion sowie die Steinbauweise erst von den Deutschen übernommen habe. Sich selbst überlassen, wären die slawischen Völker auf einer vorzivilisatorischen Stufe stehen geblieben, wie er ihr anlässlich einer Polenreise noch begegnet wäre: "Kein Garten, kein Baum oder Ackerfeld daneben, überall Schmutz und Ekel erregende Gegenstände". [23] Von den kulturellen Verbindungen der Slawen zu Byzanz hatte er eine geringe Meinung, und die Verdienste an ihrem derzeitigen Bildungsstand schrieb er ausschließlich der katholischen Kirche und den politischen Banden mit Deutschland zu. "Von Cultur und geordneten Zuständen ist nur dort die Rede, wo entweder seit uralter Zeit Deutsche wohnen, oder wo deutsche Ansiedler und deutsche Gesetze sich späterhin ausgebreitet haben." [24]

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Dieses Urteil liefert den Schlüssel zum Verständnis der Beziehung Gruebers zu seiner zeitweiligen Heimat Böhmen. So fest er auch von der kulturellen Überlegenheit der Deutschen überzeugt war, so ist doch in seinen Texten kaum eine Feindschaft gegenüber den slawischen Bewohnern des Landes zu finden. Das Miteinander beider Landesvölker war seiner Auffassung nach seit Menschengedenken der charakteristische Zug der böhmischen Geschichte sowie die Quelle der Eigenart der böhmischen Kultur, auch den deutschen Nachbarn gegenüber. Die einheimische Architektur schätzte Grueber sehr hoch, insbesondere ihre gotischen Denkmäler. "Wenn auch nicht gerade durch besondere Feinheit und harmonische Durchbildung, zeichnen sich doch die Werke der böhmischen Gothik durch manchen originellen Zug und kühnste Construktionen" aus. [25] Es bleibt festzuhalten, dass Grueber die Tschechen zunächst als eine tolerierte ethnische Gruppe innerhalb des deutschen Volksraums ansah und dass seine Einstellung auch durch seine im Nationalitätenkonflikt überwiegend neutral agierenden adeligen Mäzene gemildert wurde. Das Anwachsen der tschechischen Nationalbewegung in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts wird ihn wohl von seinen Illusionen geheilt haben. [26] Es war gewiss kein Zufall, dass die Konflikte mit seinen tschechischen Kritikern gerade in diese Zeit fielen.

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Der deutsche Nationalismus war sicher einer der Gründe dafür, warum Grueber das Schaffen Peter Parlers der Vergessenheit entreißen wollte. Dass Parlers Genie, das er als Giotto und Michelangelo ebenbürtig erachtete, bislang noch keine gebührende Anerkennung erfahren hatte, lag ihm zufolge wenigstens "zum Theile auch in der abgesonderten und feindseligen Stellung, welche Böhmen bald nachher zu Deutschland einhielt". [27] Obwohl Grueber sich des Öfteren verächtlich über eine von Emotionen und nicht von wissenschaftlichem Erkenntnisdrang getragene Darstellung äußerte und von der historischen Forschung nachdrücklich verlangte, "mit unbefangenem Blick die Weltgeschichte zu prüfen" [28], ließ er sich von seinem romantischen Empfinden verleiten, gegenwärtige Konflikte in die Vergangenheit zurückzuprojizieren.

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In der tschechischen Öffentlichkeit verlor Bernhard Grueber mit der Veröffentlichung seiner historischen Schriften nach und nach jeglichen Rückhalt. Vorbehalte gegen seine plastische Ausdrucksweise erschienen jedoch erst nach langer Zeit, nachdem er durch seine deutsche Gesinnung Unwillen erweckt hatte. Als sich das Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen im Laufe der sechziger Jahre politisierte und sich die Konflikte verschärften, geriet er in eine immer tiefere Vereinsamung. Er wurde nicht zur Teilnahme am Wettbewerb für das Nationaltheater aufgefordert und auch nicht mit der Leitung der Bauvollendung der St.-Veits-Kathedrale betraut. "Wer zum Dombaumeister wird, ist bisher nicht bekannt, obwohl wir keinen Zweifel hegen, dass es ein Tscheche sein wird" [29], war in der Zeitschrift "Lumír" damals zu lesen. Wegen nachlassendem Interesse der Hörer war er gezwungen, 1865 seine Klasse an der Prager Akademie der bildenden Künste zu schließen und musste später aufgrund seiner Taubheit die Anstalt ganz verlassen. Der Gipfel des Unrechts war, dass die Gesellschaft patriotischer Kunstfreunde als Trägerin der Akademie ihm damals keine Rente zuerkannte. Im Jahre 1873 verließ der enttäuschte Grueber Prag, zog sich über Freising nach München und Schwabing zurück, wo er im Jahr 1883 verstarb.

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In seiner ersten Arbeit über die Grundzüge der böhmischen Kunst hob Grueber an erster Stelle das Fehlen einer durchlaufenden Entwicklungslinie hervor: "Rechne man hinzu, dass ein grosser Theil der in Böhmen beschäftigten Künstler von jeher aus Ausländern bestand, dass viele derselben das Land nach vollendeter Arbeit wieder verliessen, ohne eine Schule zu gründen oder sonstigen Einfluss auf anderweitige Bauten auszuüben." [30] Ahnte wohl der romantische Historiker schon damals, dass auch sein Geschick nicht anders verlaufen würde?

Literaturverzeichnis

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Abbildungen

Abb. 1
Theodor Fischer und Josef Zasche, Zuckerindustriepalast am Heumarkt in Prag, 1912 (Gesamtansicht), Foto: Jindřich Vybíral, 2005

Abb. 2
Theodor Fischer und Josef Zasche, Zuckerindustriepalast am Heumarkt in Prag, 1912 (Detail), Foto: Jindřich Vybíral, 2005

Abb. 3
Bernhard Grueber, Friedhofskapelle mit der Gruft der Familie Berger in St. Johann / Svatý Jan pod Skalou, 1847-49, Foto: Jindřich Vybíral, 2005

Abb. 4
Bernhard Grueber, Umbau der Marienkirche in Turnau / Turnov, vollendet 1853, (Gesamtansicht), Foto: Kristýna Zajícová, 2005

Abb. 5
Bernhard Grueber, Umbau der Marienkirche in Turnau / Turnov, vollendet 1853 (Nordfassade), Foto: Kristýna Zajícová, 2005

Abb. 6
Josef Max, Emanuel Max und Bernhard Grueber, Radetzky-Denkmal in Prag, 1858, Foto: Ivan Borkovský u.a.: Architektura v českém národním dědictví (Die Architektur im Erbe des tschechischen Volkes). Praha 1961, Abb. O 857

Abb. 7
Bernhard Grueber, Charakteristik der Baudenkmale Böhmens, 1856, Titelblatt

Abb. 8
Bernhard Grueber, Südseite der St.-Veits-Kathedrale in Prag, Abbildung aus: Bernhard Grueber: Die Kunst des Mittelalters in Böhmen. Teil 3: Die Periode des luxemburgischen Hauses 1310-1437, Wien 1877, 37, Abb. 42

Abb. 9
Bernhard Grueber, Peter Parler, Zeichnung nach der Büste im Inneren Triforium der St.-Veits-Kathedrale, Abbildung aus Bernhard Grueber: Die Kunst des Mittelalters in Böhmen. Teil 3: Die Periode des luxemburgischen Hauses 1310-1437, Wien 1877, Taf. 50 und 51

Autor

Jindřich Vybíral
Academy of Arts Architecture and Design Prag
nám. Jana Palacha 80
CZ – 11693 Praha 1
e-mail: jindrichv@yahoo.de



[1] Vybíral / Sekyrková 2003, 328.

[2] Vybíral 1994; Vybíral 2001.

[3] Vybíral 2003, 311-313.

[4] Klein 1995, 237.

[5] Zatloukal 1995, 139.

[6] Nerdinger 1988, 263; Vybíral 2003, 318.

[7] Reinwarth 1905-1906, 404; Vybíral 2000; Horáček 2003.

[8] Lind 1882, 148.

[9] Wurzbach 1859, 389-390. Angeführt als Gruebers Werke werden ferner insbesondere der Entwurf des "oberen" Altstädter Ufers, Renovierung des Belvedere, Schlosskapelle in Horní Hrad, Rathaus in Klösterle/ Klášterec nad Ohří, Instandsetzung des Klosterareals in Hohenfurt/ Vyšší Brod und Umbauten der Kirchen in Nymburk, Sedlčany und Všeň.

[10] Grueber 1877, Einleitung ohne Seitennummerierung.

[11] Grueber 1871, 4.

[12] Grueber 1856, 1.

[13] Der Schwarze Turm auf der Kaiserburg zu Eger, 1862; Die Kaiserburg zu Eger und die an dieses Bauwerk sich anschließenden Denkmale, 1864; Die Junkherren von Prag, 1865; Die Herren von Rosenberg als Förderer der Künste, 1866; Das deutsche und slawische Wohnhaus in Böhmen, 1870; Die Kaiser Ludwig der Bayer, Karl IV. und die Gralsage, 1871.

[14] Grueber 1882.

[15] Grueber 1869; Grueber 1878.

[16] Baum 1874, 365 und 366.

[17] Baum 1874, 368, 241 und 382.

[18] Baum 1874, 241-242.

[19] Kalousek 1877, 338.

[20] Kalousek 1877, 338.

[21] Vgl. Benda 1986, 115. Der Autor schätzt Gruebers Auslegungen der romanischen Architektur verhältnismäßig positiv ein, aber auch er ist bei der Auswertung dessen Werkes nicht unparteiisch. In einigen Fällen übernimmt er unkritisch die Argumente von Gruebers Gegnern, ohne sich mit Gruebers Interpretationen bekannt gemacht zu haben.

[22] Grueber 1871, 2.

[23] Grueber 1875, 231.

[24] Grueber 1875, 232.

[25] Grueber 1882, 93.

[26] Kořalka 1996, bes. 29-34 und 143-158.

[27] Grueber 1869, 48.

[28] Grueber 1875, 131.

[29] Lumír 1859, 524.

[30] Grueber 1856, 1.

Empfohlene Zitierweise:

Jindřich Vybíral : Prager Architekten in München – Bayerische Architekten in Prag , in: zeitenblicke 5 (2006), Nr. 2, [19.09.2006], URL: https://www.zeitenblicke.de/2006/2/Vybiral/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-5678

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