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Studium der Geologie-Paläontologie, 1997 Promotion in Philosophie an der Universität Bielefeld, 1998-2000 wiss.Mitarbeiter am Deutschen Hygiene Museum (Dresden), ab Ende 2000 Mitarbeiter am Max Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte (Berlin), 2003 und 2004 Lehraufträge an den Universitäten von Tel Aviv und Mexico City. Seit 2004 als Research Fellow am ESRC Research Centre for Genomics in Society (Universität Exeter), seit 2007 als Dozent im Department for History. Mitherausgeber von: History and Philosophy of the Life Sciences; NTM – Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften; Technik und Medizin; Endeavour. Zur Zeit im Vorstand der British Society for the History of Science. Forschungen u.a. zur Naturgeschichte Carl von Linnés und der Kulturgeschichte der Vererbung und den wissenschaftlichen, technologischen und medizinischen Wurzeln des modernen Vererbungsbegriffs.

 

 

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Wissen zu systematisieren ist eines der schwierigsten Unterfangen im Wissenschaftsprozess. Der practical turn in der Wissenschaftsgeschichte nahm sich in den letzten beiden Jahrzehnten insbesondere der physischen Manifestationen dieses Systematisierungsstrebens, der ordnungsstiftenden Hilfsmittel an. Ein herausragendes Beispiel ist dabei der Herbarschrank Carl von Linnés, dessen binäre Nomenklatur zu den bekanntesten Klassifizierungsleistungen der Aufklärungsepoche zählt. Wie Staffan Müller-Wille, Dozent im Department for History der University of Exeter, gezeigt hat, [1] gelang es Linné mithilfe des besagten Sammlungsmöbels, zwei sich auf den ersten Blick widersprechende Erkenntnisziele der zeitgenössischen Botanik miteinander in Einklang zu bringen: die Fixierung von Taxonomien und die gleichzeitige Mobilisierung der Dinge. Dazu bedurfte es zweier ebenso einfach erscheinender wie weitreichender Innovationen. Zunächst etablierte er das Verfahren, lediglich eine Pflanze pro Bogen zu verzeichnen und diese Einzelblätter – entgegen aller Tradition – nicht zu heften oder zu Folianten zu binden. Er ging von dieser bisher üblichen Praxis ab, weil diese die Zuordnung fixierte; das System wurde statisch, stand still. Um dieser Statik etwas entgegenzusetzen, die starre, endgültige Fixierung aufzulösen, ja um überhaupt des nicht abreißenden Stroms an neuem Sammlungsmaterial Herr zu werden und es in den Bestand zu integrieren, mussten die Objekte auch innerhalb der Sammlung in Bewegung bleiben können. Es waren daher die veränderbaren Schubladen und Hängesysteme seines Herbarschranks, die das eigentliche Werkzeug der Ordnungsstiftung darstellten. So ging die materialisierte Ordnung der gedachten Klassifikation voraus.
Bekanntlich ist Schreiben eine Wissenschaft für sich, die sich jedoch – bei aller Freiheit der Gedanken – seit jeher verschiedener Hilfsmittel zu bedienen weiß. Der Exzerpierschrank des Philosophen Leibniz ist dabei nur ein besonders markantes Beispiel von vielen: "Nach Stichworten sortiert, wurden die eng beschriebenen Zettel an kleinen Nägeln im Innern des Schrankes aufgespießt und konnten so immer wieder neu geordnet werden. Der solchermaßen sich füllende Behälter enthielt mithin die Summe seiner Aufschriebe und es ist durchaus möglich, dass Leibniz 'in all seinen Texten über eine scientia generalis immer nur dieses Möbel beschrieben' hat." [2] Selbstverständlich war die Suche nach Ordnungsmöglichkeiten kein ausschließliches Phänomen der Aufklärung, sondern ist vielmehr in eine longue durée-Perspektive der Differenzierung von Textarten zu setzen. Sie reicht von den Aufklärern des 18. Jahrhunderts über Niklas Luhmanns Zettelkasten bis zu den zahlreichen Literaturdatenbanken unserer Zeit. Stets geht es darum, das zwischen Schreiben und Lesen entstehende und "für die meisten Leser unvorstellbare Maß an Zufall" [3] zu zähmen. Als Mittel zur Eindämmung erkenntnistheoretischer Kontingenz sind solche Ordnungsmedien daher einerseits notwendig, andererseits aber auch richtungsweisend.
Wenn damit nicht nur das Sammlungsmöbel Linnés als epistemisches Objekt gedeutet werden kann, sondern letztlich auch unsere Hilfsmittel der Textproduktion, was lag dann näher, als den Wissenschaftshistoriker Staffan Müller-Wille über Systematisierungstechniken und -methoden sowie das perfekte Ordnungsmittel des Geisteswissenschaftlers zu befragen? Dazu trafen wir uns – keineswegs in der geographischen Mitte zwischen Exeter, Bielefeld und Münster – am 14. September 2009 im Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin, an dem Staffan Müller-Wille gerade als Gastwissenschaftler weilte. Für das aufgeschlossene Gespräch und die unverblümten Einblicke in den eigenen "Herbarschrank" sei ihm auf diese Weise noch einmal herzlich gedankt.

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Frank Wolff
In vielen Ihrer Texte treten Sie selbst in erster Linie als kritischer Leser Linnés auf, der ihn dann in einen wissenschaftshistorischen Kontext setzt und auf diese Art und Weise historisiert. Inwieweit denken Sie in Ihrem Schreibeprozess an den Kontext Ihres eigenen Schaffens und damit, um es mit Reinhart Koselleck zu sagen, erstens an Ihre Standortbindung und zweitens an die Ihrer Leser?

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Staffan Müller-Wille
Gleich eine schwierige Frage. Eigentlich reflektiere ich während des Schreibens wenig über meine eigene Position, weil ich grundsätzlich davon ausgehe, dass das die Aufgabe anderer sei. Aber es spielt natürlich auf eine unbewusste Weise unmittelbar mit hinein. Die Dinge, mit denen ich mich beschäftige, haben meistens sehr viel mit meiner persönlichen Philosophie zu tun. Um ein Beispiel aus meiner aktuellen Arbeit zu nehmen: Ich habe angefangen, mich ein wenig mit Darwin zu beschäftigen, und dabei interessiert mich, was ich die dunkle Seite der Evolution nenne: Dass die Welt für Darwin eigentlich nicht perfekt angepasst ist, dass die Welt der Organismen voll ist mit Hinterlist und unschönen Erscheinungen wie sklavenhaltenden Ameisen und Sonstigem. Und das hat im Grunde genommen auch sehr viel mit meiner eigenen Weltsicht zu tun. Aber dass ich darüber in meinem Schreiben bewusst reflektieren würde, ist eher weniger der Fall. Ich trete eigentlich gerne als Autor zurück.

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Alexander Kraus
Haben sich Ihre Schreibgewohnheiten denn im Verlauf Ihrer Wissenschaftskarriere tendenziell oder grundlegend gewandelt? Sie haben ja ursprünglich als Paläontologe und Geologe angefangen, kamen dann über die Auseinandersetzung mit der Wissenschaftsgeschichte der Botanik in ein Projekt zur Geschichte der Vererbung und sitzen jetzt am Centre for Genomics in Society an der University of Exeter. Bedingt die Anbindung an anders ausgerichtete wissenschaftliche Institutionen auch eine andere Art des Schreibens? Können Sie das anhand Ihrer Biographie nachzeichnen?

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Staffan Müller-Wille
Ja, es gibt natürlich eine Entwicklung, die sicherlich bei allen historisch Schreibenden stattfindet, nämlich dass man gegenüber den Quellen im Laufe der Zeit eine gewisse Souveränität gewinnt, in dem Sinne, dass man mit ihnen spielerischer umgehen kann, nicht so sehr am Wortlaut klebt, nicht so sehr einfach nur Evidenzen aneinander reiht und hofft, dass der große Haufen dann irgendwann mal induktiv zum großen Schluss führt. Und das hat auch mit dem Wechsel von Institutionen zu tun, denn jeder Wechsel stellt uns in neue Kontexte, in denen immer wieder andere Formen des Schreibens gefordert sind. Der diesbezüglich für mich wohl wichtigste Wechsel war der nach meiner Dissertation an ein Museum. Dort muss man für Ausstellungen Texte produzieren, in denen etwas, was man ansonsten als Universitätshistoriker vielleicht auf 20 Seiten geschrieben hätte, in zwei oder drei Sätzen abgehandelt werden muss. Derart zu kondensieren und dennoch ins Detail zu gehen, erfordert ein enormes Training. Und das wiederum trainiert eine gewisse Souveränität gegenüber den Quellen.

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Frank Wolff
Diese Souveränität gegenüber den Quellen müssen Sie ja irgendwie dafür nutzen, um im Endeffekt zu einem Text zu kommen, der eben drei Sätze lang ist oder 20 Seiten umfassen kann. Letztendlich haben Sie die ganze Zeit den nicht unproblematischen Vorgang vor sich, Material, das nicht-linear vorliegt, so zu ordnen, dass am Ende ein linearer Text herauskommt. Wir fragten uns daher, wie Sie im Ordnen vorgehen. Bildlich gesprochen: Wie sah der 'Herbarschrank' aus, mit dem Sie Ihr Material ordneten? [4]

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Staffan Müller-Wille
Da habe ich mir im Laufe der Zeit viel ausgedacht und, wie man das heute so macht, auf meinem Rechner Ordner angelegt, die Unterordner haben, wo irgendwelche Sachen abgelegt werden. Ich hab dann auch eine Weile versucht, mit Datenbanken wie Filemaker zu arbeiten – und ich habe Ablagen voller Kopien und so weiter und so fort. Aber durch eine mehr oder weniger bittere Erfahrung bin ich zur Einsicht gekommen, dass das alles nicht besonders viel bringt. Man muss eine Balance finden zwischen der Zeit, die man beim Ordnen und Anordnen vergeudet, und dem, was sich daraus machen lässt. Oft ist ein einfacher Stapel von kopierten Aufsätzen oder Buchkapiteln effektiver als eine verschlagwortete Datenbank.
Damit beschäftige ich mich im Moment auch mit Bezug auf Linné. In einem neuen Projekt untersuche ich seine Schreibweisen, habe dafür auch Geld vom Wellcome Trust bekommen und kann dies jetzt drei Jahre zusammen mit einer Mitarbeiterin bearbeiten. Linné exploriert auf fast experimentelle Weise Aufschreibsysteme, die zum einen relativ flexibel bleiben und in denen die Sachen eben auch nicht endgültig geordnet sind, und Aufschreibsysteme, in denen alles in eine endgültige Ordnung gebracht wird. Aber dann kann es eben auch nicht mehr mobilisiert werden für Neues. Das ist der Balanceakt, den man finden kann.
Das meiste passiert bei mir eigentlich durch das Ordnen von Gedanken während des Schreibens. Während der Text tatsächlich abgefasst wird, ordnen sich die Gedanken irgendwie auf nicht so richtig nachvollziehbare Weise, und man braucht kein ausgefuchstes Verschlagwortungssystem, um die Sachen zu finden. Das Gedächtnis regelt dies, selbst wenn etwas nicht explizit im Gedächtnis ist, wird es abgerufen; es fällt einem das passende Zitat dann doch wieder ein. Ich habe eigentlich die Tendenz, Texte von Anfang bis Ende durchzuschreiben und am Ende noch einmal drüber zu gehen. Aber es ist selten der Fall, dass ich auf etwas stoße, und dann sage: "O, das müsste ich jetzt am Anfang noch einmal einarbeiten."

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Alexander Kraus
Was Carl von Linné angeht, ist uns aufgefallen, dass sein Wirken in Ihrem Schreiben als ein nie stotternder Inspirationsmotor wirkt. Ob nun eben der angedeutete Herbarschrank, der von ihm angelegte Botanische Garten in Uppsala, das von ihm geschaffene Diagramm als neues "Repräsentationsregime", seine Funktion als Netzwerker, Korrespondent und Pflanzentauscher, seine Taxonomie oder sein genealogisches Gedankenmodell der Serie im Kontext der Vererbung – Linné ist omnipräsent. Er ist ein immer wieder neues Erkenntnisobjekt, jetzt sogar in seinen Schreibesystemen. Wir haben uns gefragt, auf welchem Wege Sie sich Linné denn immer wieder neu erschließen. Entsteht er mitunter durch den Prozess des Schreibens stets in neuer Form oder zeigt sich in einem anderen Gewandt? Oder haben Sie sich schon von vorneherein gesagt, dass dies noch möglich ist und dass Sie ihn dahingehend noch weiter bearbeiten möchten?

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Staffan Müller-Wille
Naja, erst einmal ist er natürlich dadurch, dass er im 18. Jahrhundert steht, noch eine wesentlich vieldimensionalere Persönlichkeit, als dass dies ein professioneller Wissenschaftler heute sein kann. Er konnte ganz einfach viel mehr ein Hans Dampf in allen Gassen sein. Linné war noch so ein bisschen der barocke Projektemacher, für den nichts zu schwierig schien. Und zum Teil liegt es einfach an der Eigenart des historischen Materials, dem man so viel abgewinnen kann. Viele Aspekte, von denen ich dachte, die könnte man noch untersuchen, waren mir aber schon während der Arbeit an der Doktorarbeit aufgefallen. Das habe ich auch nach und nach getan. Es gibt diesen Perspektivwechsel, den ich schon mehr oder weniger bewusst vollzogen habe, um all die Thematiken, die ich in der Doktorarbeit nur antippen konnte, dann in einzelnen Artikeln auszuarbeiten. Und zum Teil liegt es auch an der in der Natur- und Wissenschaftsgeschichte verbreiteten Methode, sich auf eine Person zu fokussieren. Das Lustige an so einem biographischen Ansatz ist ja, dass er systematisch unsystematisch ist. Systematisch insofern, als dass er auf alles geht, was an Spuren von einer Person hinterlassen worden ist; aber diese Spuren an sich sind nicht systematisch. In einer Biographie passieren alle möglichen Sachen; die Leute machen alle möglichen Sachen, sie müssen gar nicht unbedingt zusammenhängen, sie tun es manchmal. Das Werk einer historischen Person ist eine Art Prisma, in dem sich alles Mögliche dieser Zeit bricht.

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Frank Wolff
Ich möchte noch einmal auf die Eigenarten der Quellen zurückkommen. Wenn ich auf die Varianz der Quellen und die Ihres eigenen Schreibens zurückschaue, fällt eine Parallele deutlich auf: Dass für Naturwissenschaftler häufige Sprachwechsel alltäglich, in den Geisteswissenschaften dagegen nicht ganz unumstritten sind. Wenn wir Ihre Quellen und Ihr Schreiben betrachten, dann wandern Sie ziemlich konstant zwischen drei, vielleicht vier Sprachen hin und her. Inwieweit wirken sich diese Wechsel oder Übersetzungsvorgänge auf die Ebenen Ihrer Rezeption und Ihrer Textproduktion aus?

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Staffan Müller-Wille
Sie spielen jetzt darauf an, dass ich zum einen mit mehrsprachigen Quellen arbeite und zum anderen in mehreren Sprachen über den gleichen Kontext schreibe. Das ist ganz wichtig. Zum Teil steht meine wissenschaftshistorische Arbeit in der Tradition klassischer Begriffsgeschichte. Gerade die Analyse von Begriffen ist im Grunde genommen Übersetzungsarbeit. Dies führt man durch den Wechsel von Sprache zu Sprache permanent durch; daraus folgt durchaus Erkenntnisgewinn. Ich will mal ein ironisches Beispiel geben: Als Hans-Jörg Rheinberger [5] und ich mit dem Projekt zur Kulturgeschichte der Vererbung begannen, haben wir immer ganz selbstverständlich unseren englischsprachigen Kollegen gegenüber von Vererbung als einer Metapher gesprochen. Die englischsprachigen Kollegen reagierten darauf immer mit ein wenig Unverständnis. Sie sagten: "Why do you think it's a metaphor?" Wir dachten ursprünglich, sie wollten jetzt irgendetwas ganz besonders Schlaues über Metaphern wissen, unseren metapherntheoretischen Ausgangspunkt. Tatsache war aber, dass im Englischen heredity die juristische Bedeutung gänzlich verloren hat. Man nimmt diesen Terminus im Englischen nicht als Metapher wahr; im Deutschen klingt bei Vererbung das Juristische selbstverständlich immer noch mit an. So etwas erfährt man, indem man sich in verschiedenen Sprachen bewegt. Es sagt nicht nur etwas über das Wort, es sagt auch etwas über den Begriff.

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Alexander Kraus
Übersetzung findet bei Ihnen jedoch nicht nur auf der textuellen Ebene statt. Bilder als Hilfsmittel der Wissensproduktion und wissenschaftlicher Erkenntnis treten in allen denkbaren Disziplinen – und das im Grunde schon seit Jahrhunderten – als Evidenzgeneratoren auf. [6] In den Naturwissenschaften wird in diesem Kontext gar von der großen Tendenz einer zunehmenden Verbildlichung gesprochen. [7] Sie selbst haben Ihren Arbeiten auch immer wieder Diagramme, Ansichten, Grundrisse, Photographien, Ausstellungstafeln oder gar Ölmalerei als Quellen zugrundegelegt. [8] Welche Anforderungen stellt der Übersetzungsprozess der visuell vermittelten Informationen an Ihr Schreiben? Und bedürfen bildliche Quellen einer speziellen Übersetzungsleistung?

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Staffan Müller Wille
In erster Linie steht dabei das Problem, dass man es mit einem mindestens zweidimensionalen Gegenstand zu tun hat, den man dann linear beschreiben muss. Und da gibt es nicht nur für das eigene Schreiben interessante Probleme – ich halte das oft für die größte Herausforderung – so ein Bild oder auch nur eine einfache Tabelle in Worten zu beschreiben. Das ist natürlich auch ein Problem, das es in der Wissenschaftsgeschichte selbst gegeben hat. Im Grunde wird dies seit Bacon weiterentwickelt: die Beziehung zwischen Bildern und Worten zu vervielfältigen. Und das ist auch etwas, was mich sehr interessiert. In der Wissenschaftsgeschichte zum Beispiel ist es wirklich sehr auffällig, wie wenig Karten zu Hilfe genommen werden, obwohl es den practical turn gegeben hat und man sich für Netzwerke, die Räumlichkeit des Labors und lokale Kontexte interessiert. Trotzdem findet man ausgesprochen wenig Karten in der Wissenschaftsgeschichte, was in anderen Bereichen der Geschichtswissenschaft ja ganz anders ist.

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Alexander Kraus
In Ihrem Aufsatz "Botanischer Tausch und Ökonomie der Natur" haben Sie noch eine ganz andere Ebene der Wissenschaftskommunikation bearbeitet: die der sich innerhalb von Tauschbeziehungen und Korrespondenzen festschreibenden Beziehungsnetze und die sich daraus entwickelnden Abhängigkeitsverhältnisse zwischen einzelnen Forschern. Dies ganz explizit unter der Prämisse, dass "die Formen, in denen sich Tauschakte vollziehen, in einem kausalen Zusammenhang mit den Formen des Wissens stehen, das durch den Austausch generiert wird". [9] Würden Sie sagen, dass dies auch in der gegenwärtigen Wissens- und wissenschaftlichen Textproduktion Gültigkeit besitzt? Und wenn ja, wie kommt es zum Ausdruck?

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Staffan Müller-Wille
Sie meinen jetzt in der naturwissenschaftlichen?

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Alexander Kraus
Nicht nur – in erster Linie in der Naturwissenschaft, aber dann auch übertragen auf Ihren Kontext.

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Staffan Müller-Wille
Dafür bin ich aber kein Spezialist. Es gibt ganz klar auch heute einen Zusammenhang zwischen den enormen Datenbanken, die aufgebaut werden zum Genom verschiedenster Organismen, dem Austausch von Daten unter diesen Datenbanken und dem Wissen, das darauf aufbauend generiert wird, also das ganze komplexe Bild von Lebensvorgängen, das die Molekularbiologie mittlerweile zeichnet. Diese Abhängigkeiten spielen nach wie vor eine Rolle. Aber es ist heute wesentlich schwieriger, das zu analysieren. Es gibt viele Kollegen, die da einiges leisten, aber mein Eindruck ist, dass eine Analyse immer schwieriger wird. Man kann natürlich ähnliche Strukturen und Verhaltensweisen feststellen – und es gibt auch noch so eine Art Gabentausch zwischen Laboren heute. Aber es kommen zum Beispiel ökonomische Dimensionen dazu, die man aus früheren Zeiten nicht so kennt. Und das in den Griff zu kriegen, ist meines Erachtens noch nicht richtig gelungen. Meistens bleibt es bei dem Vergleich mit Praktiken der klassischen Naturgeschichte und der Feststellung, dass das auch heute stattfindet. Das ist eben auch eine Forschungsherausforderung für mich selbst: Ich glaube durchaus, dass das Arbeiten mit elektronischen Ressourcen, also dem elektronischen Zugriff auf Artikel, und überhaupt das Internet einiges verändert. Da ist natürlich einmal die Geschwindigkeit, mit der man in der Lage ist, spezifisch auf Informationen zuzugreifen. Hinzu kommt die Flexibilität, mit der man ein neues Thema in Angriff nehmen kann, einen bestimmten Aspekt, der einem beim Schreiben spontan einfällt, dann empirisch einholen kann, indem man sich die entsprechende Literatur innerhalb von Minuten besorgt.

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Alexander Kraus
Die vorhergehende Frage zielte versteckt vor allem – wenn auch weniger unter dem Gesichtspunkt der entstehenden Abhängigkeitsverhältnisse – auf Ihre seit langem genutzte Form der kollektiven Autorschaft, so beispielsweise die schon angesprochene Koautorschaft mit Hans-Jörg Rheinberger, dem Direktor des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte. Wie funktioniert der Prozess des gemeinsamen Schreibens und wie gehen Sie mit dem damit eventuell verbundenen Bedeutungsverlust des Einzelautors um? Schließlich sind in einem gemeinschaftlich produzierten Werk die jeweiligen Autorenleistungen nicht mehr klar erkennbar oder präzise voneinander zu unterscheiden.

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Staffan Müller-Wille
Naja, das ist von Koautor zu Koautor sehr verschieden. Im Falle von Herrn Rheinberger und mir kann man sagen, dass wir einmal mit Bezug auf unsere Expertise natürlich klar arbeitsteilig organisiert waren. Da gab es dann den Bereich der Überschneidung für die Phase um 1900, aber ansonsten herrschte eine große Arbeitsteiligkeit. Bei den gemeinsamen Texten gingen wir eigentlich immer so vor, dass diese irgendwo in der Mitte geteilt wurden, dann hat ein jeder seinen Teil geschrieben. Anschließend ist jeder noch einmal über den Text des anderen gegangen und, da wir beide nicht sehr eitel an unseren eigenen Worten hängen, waren Änderungen dann auch kein Problem. Meistens, so meine Erfahrung, sind Änderungsvorschläge von anderen ohnehin klug und berechtigt. Es ist eigentlich in 99 Prozent aller Fälle so. Bei anderen Autoren ist die Arbeitsteilung natürlich anders. Es kann auch manchmal sein, dass von einem Autor nur die ursprüngliche Idee kam und dass die Ausformulierung dann im Wesentlichen meine Sache blieb. Das war aus sprachlichen Gründen bei Vitezslav Orel der Fall. [10] In wiederum anderen Fällen ist es einfach so, dass man gemeinsam viel empirisches Material gesammelt hatte, wie bei einem neuen Aufsatz mit Sara Scharf über die Manuskripte Linnés. [11] Es brauchte dann einen etwas komplizierteren Prozess des Sich-Organisierens, bis eine Ebene gefunden war, auf der wir uns sehr gut ergänzt haben, viel eher, als dass man miteinander konkurriert.
Ich weiß, dass Koautorschaften in den Geisteswissenschaften nicht so häufig vorkommen. Ich komme ja aus den Naturwissenschaften. Aber der Vorteil liegt auf der Hand: Man kann Expertisen kombinieren, die sonst in dieser Kombination ungenutzt bleiben. Die Geschichte der Vererbung vom Späten Mittelalter bis heute hätte ich allein nicht schreiben können, das wäre gar nicht möglich gewesen. Spätestens mit der Entdeckung der Doppelhelix wäre es dann bei mir zu Ende gewesen. Aber man muss als individueller Autor eben ein Stück weit zurücktreten. Gewisse Dinge lässt man dann lieber unausgesprochen und sagt sie woanders, was ja auch geht. Es muss ja nicht immer alles auf einmal gesagt werden.

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Frank Wolff
Ich würde gerne noch einmal auf Ihre individuelle Textproduktion schauen. Philipp Sarasin legt seinen Studenten immer nahe, keine Lücken zu füllen, sondern eine Geschichte zu erzählen. Dann entstünde in dem Prozess des Geschichte-Erzählens schnell ein "imaginäres Gegenüber", dessen Skepsis korrigierend in den eigenen Erkenntnisprozess eingreife. [12] Sie heben an mehreren Stellen markant hervor, dass Sie eine Lücke schließen wollen, wortwörtlich in Ihrem Buch zu "Botanik und weltweitem Handel" [13] ebenso wie in einem Aufsatz in Koautorschaft mit Hans-Jörg Rheinberger [14] und anderen Situationen. Inwieweit haben oder entwickeln Sie ein "imaginäres Gegenüber", wie entsteht es bei Ihnen und wie treten Sie in einen inneren Kommunikationsprozess mit sich selbst?

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Staffan Müller-Wille
Also beim Schreiben nur Lücken zu füllen wäre natürlich langweilig. Die Lücke besteht ja normalerweise nicht zufällig, dies hat ja oft einen handfesten Grund. Nehmen wir das Beispiel Vererbung: Die Geschichte dieses Begriffs ist im Wesentlichen deshalb noch nicht geschrieben worden, weil es als ein selbstverständliches Phänomen aufgefasst wurde, das den Menschen immer schon vor Augen stand, seit sie irgendwann im Neolithikum begannen, Landwirtschaft zu betreiben, ja vielleicht sogar noch früher. Das imaginäre Gegenüber sind dagegen meine eigenen Selbstverständlichkeiten. Das ist mehr eine Auseinandersetzung mit Dingen, die man für selbstverständlich hält und bei denen man sich zwingen muss, sie zu hinterfragen. Bei Linné ist es im Grunde genommen ganz ähnlich. Er begann im 20. Jahrhundert eine angebliche Denkweise zu verkörpern, den sogenannten Essentialismus, die über zwei Jahrtausende den Fortschritt behindert habe. Von so einer Verkörperung geht dann eine ungeheure mythische Strahlkraft aus, und niemand fragt sich mehr, warum eigentlich überhaupt jemand so eine verquere Metaphysik hätte annehmen sollen. Es bleibt vieles verborgen. Auch was gegenwärtige Problematiken betrifft: Ich würde sagen, das imaginäre Gegenüber bin ich selbst, und das mit bestimmten Vorstellungen und Vorurteilen.

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Alexander Kraus
Wie Hans-Jörg Rheinberger am Beispiel anatomischer, mikroskopischer und mikrobiologischer Präparate sowie an Herbarien gezeigt hat, erfahren gar nicht so wenige dieser Erkenntnishilfsmittel, mit denen sich Naturwissenschaftshistoriker beschäftigen, einen fundamentalen Bedeutungswandel, sobald sie aus ihrem "angestammten Naturzusammenhang" heraus gerissen und in den wissenschaftlichen Kontext hinein gestellt werden. Erst durch die Implementierung von Sinn, die in diesem Prozess stattfindet, werden sie dort zu epistemischen Objekten. [15] Damit repräsentieren sie im Grunde eine künstlich geschaffene Ordnung. Inwieweit strukturiert das Wissen darüber, dass es eine künstlich geschaffene Ordnung ist, mit der man sich beschäftigt, das eigene Schreiben eines Wissenschaftshistorikers? Denn dieser muss ja stets versuchen, die vorgefundenen Ordnungen selbst in eine Ordnung zu fügen.

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Staffan Müller-Wille
Da hat man es dann natürlich mit einem ganz analogen Problem zu tun, das einem auch bei der Art und Weise begegnet, wie man mit Quellen umgeht, die man für gewöhnlich auch in neue Kontexte stellt. Deswegen möchte ich auf schon oben Angesprochenes zurückkommen, was sich im Wesentlichen während des Schreibens ergibt. Ich erinnere mich zum Beispiel, dass ich die Charakterisierung des männlichen Samens als Monster durch Montaigne schon lange kannte, weil dies häufig in Quellen des 19. Jahrhunderts auftaucht. Seine Bedeutung habe ich aber erst erkannt, als mir so einiges über Darwin und seine Auffassung von Vererbung klar geworden war. Natürlich sind Darwin und Montaigne nie aufeinandergetroffen. Zwar zitiert Darwin ihn auch schon mal, aber die Verknüpfung, die man dann durch die Geschichte macht, indem man Montaigne als Anfang nimmt und dann den Bogen zu Darwin spannt, ist natürlich die originäre Leistung des Wissenschaftshistorikers. Das hat schon immer etwas durchaus Experimentelles, aber natürlich im Prozess des Schreibens. Vielleicht zu einem gewissen Grade auch im Prozess des Lesens, darauf abzielend, was man nacheinander liest. Das ist wesentlich weniger kontrolliert und natürlich sehr viel mehr von Zufällen abhängig, als wenn man an einem Text sitzt und versucht, diesen rund zu machen.

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Alexander Kraus
Zuletzt hat sich innerhalb der Wissenschaftsgeschichte der Fokus verstärkt auf die Akteure der Wissensproduktion verschoben. Sie haben das ja bereits auf der Ebene des "practical turn" angesprochen: Was tun Wissenschaftler eigentlich, wenn sie experimentieren, analysieren, ja ganz allgemein Forschung betreiben? Auch Sie haben sich wiederholt mit der Praxis des Forschens – vor allem bei Linné – auseinandergesetzt. Inwieweit forciert oder intensiviert eine solche Orientierung oder Ausrichtung das Nachdenken über die eigenen Schritte während des Forschens und Schreibens? Erhöht ein solches Frageinteresse den Grad an Selbstreflexivität?

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Staffan Müller-Wille
Ja, vielleicht. In den Wissenschaften steht ja ganz allgemein seit der Neuzeit die Generierung von neuem Wissen im Vordergrund, der Wert liegt auf der Überwindung von überkommenen Denkformen oder Denkinhalten. Das gilt, glaube ich, ebenso für die Naturwissenschaften wie für die Geisteswissenschaften. Und natürlich hat das viel mit Selbstreflexion zu tun, weil man selbst zu denjenigen gehört, die überkommene Denkformen und Denkinhalte haben, die es zu überwinden gilt. Man kann ja eigentlich wenig in die Köpfe anderer gucken. Es bleiben immer nur Anhaltspunkte, und bezeichnenderweise findet man für die am stärksten verbreiteten Vorurteile auch die wenigsten Anhaltspunkte. Jeder weiß es, aber keiner spricht darüber. Und das historisch evident zu machen, ist oft sehr schwer, denn Zeitgeist lässt sich eben nicht in einem Zitat einfangen. Und daraus resultiert in meinen Augen schon eine gewisse Selbstauseinandersetzung. Das ist zum Teil auch bei Naturwissenschaftlern der Fall, wenn auch meistens auf einem viel enger definierten Gebiet.

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Frank Wolff
In einem Text zu den großen Entwicklungslinien der Biologie von ihrer "Entstehung" bis zur modernen Genetik heben Sie hervor, dass durch die Mendelschen Innovationen das Leben sowohl "upwards" als auch "downwards" erweitert wurde. Leben wurde ein Konzept, sie nennen es gar "property", welches sich sowohl von einer Mikroebene aus konstituierte, als auch von einer kollektiven. Uns scheint vielen Ihrer Texte ein ähnlicher Ansatz bezüglich der Geschichte großer Wissenschaftsleistungen zugrunde zu liegen. Im Zentrum stehen oft ein oder mehrere Wissenschaftler, deren Errungenschaften dann sowohl auf der textuellen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene verortet werden. Ihr Schwerpunkt liegt dabei aber sehr stark auf der Mikroebene des Textes: Wie kommt es zu dieser Gewichtung?

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Staffan Müller-Wille
Das hat vielleicht etwas damit zu tun, dass auch die Wissenschaftsgeschichte als Wissenschaft ein Stück weit natürlich durch ihren Gegenstand definiert ist. Und dieser Gegenstand besteht meiner Meinung nach aus Texten. Ich glaube nicht, dass der practical turn davon ablenken darf, dass Tradition in den Wissenschaften durch Texte hergestellt wird und dass sich die Geschichte nicht in den lebendigen Körpern der praktizierenden Wissenschaftler abspielt, sondern tatsächlich in diesen Texten. Als Wissenschaft finden Sie es in den Texten, nicht in den Köpfen einzelner Personen. Natürlich sind diese Texte nicht möglich ohne die Menschen und eine Gesellschaft, die sie trägt, auch nicht ohne die gesellschaftliche Reproduktion, aber wenn man so will: Der Fluss der Wissenschaftsgeschichte verläuft in den Texten. Und deshalb muss man diesen Konnex hinkriegen. Das ist natürlich nicht einfach. Gerade deshalb kommt es dabei auf das Detail an, weil sich die Schnittstellen eben in Details finden. Sie spielen sich bereits dann ab, wenn etwas in einem Text nur ein bisschen anders formuliert wird. Dadurch kann sich eine gesellschaftliche Veränderung abzeichnen. Aus dieser wiederum kann sich dann in der Tradition Neues entwickeln. Das ist sicherlich das Wichtige dabei, auch wie es meiner Meinung nach nicht generell für Geschichte gilt. So würde ich nicht behaupten, dass Geschichte ausschließlich immer Textgeschichte ist. Aber in der Wissenschaft ist es schon so. Das hat etwas damit zu tun, dass Wissenschaft diesen Anspruch auf Universalität erhebt. Das Medium der Universalität ist nun einmal der Text, während in der politischen Geschichte natürlich andere Dinge, andere Medien eine Rolle spielen.

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Frank Wolff
Im Endeffekt haben wir es dann mit einer Dreiecksbeziehung zu tun zwischen einem gesellschaftlichen Funktionssystem der Wissenschaft, den Wissenschaftlern und dem Text. Inwiefern verändert sich dieses Kräftedreieck, diese Gewichtung der Kräfte durch den Prozess der Erkenntnis?

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Staffan Müller-Wille
Ich halte es für keinen Zufall, dass es Wissenschaftsgeschichte eigentlich erst im 20. Jahrhundert gibt. Sicher kann man einige Figuren im 19. Jahrhundert finden, bei denen sich dies bereits abzeichnet. Hegel ist ein solches Beispiel. Aber das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert, das erkennt, dass Wissenschaft eine Geschichte hat und dass sie daher ein philosophisches Problem darstellt. Das hat mit diesem selbstüberwindenden Charakter der Wissenschaft zu tun, dass diese sich selbst ständig immer wieder des Irrtums überführt. Dadurch hat sich einiges geändert. Das kommt natürlich nicht in allen Ecken und Enden der Gesellschaft an. Ich würde jetzt nicht sagen, dass die Wissenschaftsgeschichte das Verständnis von Wissenschaft global revolutioniert hat. Die meisten Wissenschaftler können seelenruhig weitermachen, ohne jemals über dieses Problem nachzudenken, und auch die meisten Leute, die Wissenschaft einfach nur konsumieren, können das. Dennoch hat sich da einiges geändert. Das ist ein Symptom dafür, wenn auch vielleicht eher in lokalen Kulturen als global.

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Alexander Kraus
Auch wenn wir Ihnen dahingehend absolut zustimmen, dass "sich Naturgeschichte ohne Netzwerke der Kommunikation und des Austauschs gar nicht denken [lässt]", [16] gilt doch für die Natur- und Umweltgeschichte, wie auch für die Geschichte der Botanik nicht minder, dass die Produktion von Wissen nicht allein von internationalen Korrespondenznetzwerken der Wissenschaftler und den institutionellen Ressourcen abhängt, sondern in erster Linie eben auch von der sie umgebenden Umwelt, den natürlichen Begebenheiten selbst und also auch von den Orten, an denen das Wissen entsteht. Inwiefern findet das in Ihren Texten Berücksichtigung?

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Staffan Müller-Wille
Das hat mich vielleicht am ehesten in einer Einleitung zu einem Buch beschäftigt, in dem wir einen frühen Text von Linné ediert und übersetzt haben, nämlich einen Text über die Banane. [17] Dieser Text ist auch ungeheuer facettenreich, es findet sich alles Mögliche darin. Da hat man Linné als den barocken Redner, als Taxonom und auch ein bisschen als Vertreter der Biologie fast im Sinne des 19. Jahrhunderts. Und dieser Text erschließt sich eigentlich erst, wenn man einiges über die Banane und ihre Verbreitungsgeschichte gelernt hat, wenn man beispielsweise realisiert, dass die Banane zur ökonomischen Grundlage des Plantagensystems geworden war. Sie war Hauptnahrungsmittel der Sklaven, und insofern auch eine globale Pflanze, sicherlich eine der ersten globalen Pflanzen. Linné war sich dessen bewusst und hat deswegen auch nicht umsonst die Banane gewählt. Da kommt die Banane, wenn man so will, in ihrer Naturgeschichte, sie hat Bedeutung für das Verständnis dieses Textes. Und das halte ich für wichtig, da bin ich eigentlich ganz Materialist. Die Elemente, mit denen Linné da jongliert, um letztendlich einen kleinen Prachtband für seinen großen Gönner in Holland zu liefern, haben auch eine materielle Dimension, eine naturgeschichtliche Dimension.

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Frank Wolff
Rückgreifend auf den Beginn Ihres Buches zu Linné benennen Sie vor allem Linnés Darstellungsstrenge in Bild und Typographie als einen entscheidenden Faktor, der erlaubte, das "Natürliche System" als überhistorisch wahrzunehmen. Das "Chaos" der Natur wurde also durch die Verbildlichung in Graphik, Satz und Wort gebändigt. Sie selbst arbeiten in Ihrem Buch und in vielen anderen Publikationen auch intensiv mit Graphiken und Schaubildern. Inwieweit spielen derartige Zähmungsgedanken durch die Darstellung in Ihr eigenes Schreiben hinein?

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Staffan Müller-Wille
In erster Linie versucht man natürlich sich selbst beziehungsweise den eigenen Assoziationsreichtum zu zähmen. Dies ist doch letztendlich das Hauptcharakteristikum wissenschaftlichen Schreibens. Man könnte natürlich auch einmal das Zähmen beiseitelassen, dann würde aber nicht unbedingt Wissenschaft herauskommen. Da habe ich schon ein klares Ethos. Gleichwohl kann dieses Zähmen durchaus spielerische Formen annehmen. In einem Aufsatz zu Mendel und der Vorgeschichte der mendelschen Versuche habe ich mit tabellarischen Darstellungen gearbeitet, die mehr oder weniger spielerisch entstanden sind. [18] Dies geschah, wenn man so will, auf einem Schmierzettel, auf dem ich, um mir selbst über die Begriffe klarzuwerden, die in den Texten auftauchten, die entsprechenden Antonyme zusammengestellt habe. Dabei habe ich gemerkt, dass das eine ganz gute Art ist, um die begriffliche Dynamik zu erfassen, die in dieser speziellen Geschichte am Werk war: Die Beteiligten haben beständig Unterscheidungen vorgenommen, die dann vor ihren Augen in den Experimenten, die sie auf der Grundlage ihrer Unterscheidungen konzipiert haben, permanent unterlaufen wurden. Dieses Zähmen hat durchaus etwas Spielerisches, und das gilt auch durchaus für Linné. Von ihm ist oft geschrieben worden, er sei von Klassifikation besessen gewesen, und das klingt dann immer so, als sei er der größte Bürokrat vor dem Herrn gewesen. Tatsächlich aber hat es etwas Spielerisches bei ihm: Er probiert alles Mögliche aus. Zähmen heißt darum nicht unbedingt, dass das immer nur auf dasselbe hinausläuft – es ist eher Zirkus als Legebatterie.

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Frank Wolff
Diese Spielerei auf Schmierzetteln ist ein Punkt, der uns sehr interessiert. Linné selbst, so führen Sie aus, setzte sich zum Beispiel zum Ziel, Verwandtschaften darzustellen wie "Gebiete auf einer geographischen Karte". Sie stellten in letzter Zeit auch mehrere historisch bedingte Großbeziehungen als wissenschaftshistorische Verwandtschaften dar. Inwieweit liegen nun ordnende graphische Ideen oder Notationen dahinter, wie etwa Schmierzettel? Gibt es da Systeme, Ideen oder immer wiederkehrende Modi, die "hinter" dem Text liegen?

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Staffan Müller-Wille
Ja, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Mich überkommt es mehr oder weniger punktuell, dass ich Zuflucht zum Schmierzettel nehme und dann versuche, Ideen oder Begriffe graphisch zu ordnen. Ich könnte noch nicht einmal so genau benennen, an welchen Punkten das explizit geschieht. Im Falle Mendels gab es wirklich einen Moment, an dem es sehr schwierig zu verstehen war, um was für eine begriffliche Dynamik es sich handelte, um letztendlich mein Argument wasserdicht zu machen. Und manchmal ist es tatsächlich eher spielerisch. Das kommt in Wellen. Bei dem Vererbungsbuch kann ich mich allerdings nicht entsinnen, dieses Hilfsmittel verwendet zu haben. Das ist unterschiedlich.

<36>

Frank Wolff
Dieses graphische Hilfsmittel, was ja immer wieder genannt wird in der Wissenschaftshistorie, bezeichnet man sehr häufig auch als "Kartieren". Ich hatte manchmal den Eindruck, bei Ihnen liege oft eher ein vertextlichter Kartierungsprozess vor und dann und wann dienen Foucault oder Latour als Kompass, der Sie durch den Text navigiert. Sehen Sie das als eine adäquate Beschreibung Ihres Schreibens oder gibt es da innere Prozesse, die noch auf anderen Ebenen stattfinden?

<37>

Staffan Müller-Wille
Ja doch, dieses kartierende Element steht durchaus im Vordergrund; man darf ja nicht vergessen, dass ein Kompass im Vergleich zur Karte eigentlich ausgesprochen wenige Informationen liefert. Ich will Foucault nicht runter spielen, aber als Kompass wird er überschätzt. Seine Stärke liegt ja auch mehr in diesem kartierenden Verfahren, bei dem man sich einer großen Menge im historischen Sinne paralleler diskursiver Elemente versichert und das auszubreiten versucht. Das war bei dem Projekt zur Vererbung der Fall. Hier haben wir die Vorgeschichte beschrieben, bei der das besondere Problem darin bestand, dass es eben eine Vorgeschichte war, der Begriff eigentlich noch nicht existierte. Die Vererbung war noch nicht auf den Punkt gebracht und so mussten wir sie uns eben anders erschließen. Man kann nicht durch die Register der Bücher der damaligen Zeit gehen und nach dem Ausdruck Vererbung suchen, weil es ihn dort schlichtweg nicht gab. Das hatte etwas Exploratives, und oft war auch gar nicht klar, wo die Grenze zu ziehen war. Das ließe sich gewiss auch in anderer Weise lösen, als wir es gelöst haben. Aber ob theoretische Autoren da wirklich einen Kompass liefern? Das funktioniert sicherlich, was bestimmte Dynamiken und Mechanismen angeht, die die Geschichte der Wissenschaft vorantreiben. Da sind einige Autoren für mich wichtig, in erster Linie eigentlich Gaston Bachelard, dann aber auch Foucault. Daraus ergibt sich ein Vorverständnis, welches die Selektion von Material schon steuert. Diese Literatur leitet weniger durch die Landschaft, als dass sie überhaupt erst die Konturen der Landschaft konstituiert.

<38>

Alexander Kraus
Wenn wir noch einmal kurz zu dem Prozess des Klassifizierens selbst zurückgehen können: Wir haben uns gefragt, inwiefern die Themen, mit denen wir uns als Historiker beschäftigen, unser Denken vorstrukturieren und unser eigenes Schreiben prägen. Sie haben sich wiederholt intensiv mit Linnés Wissenschaftsklassifikation [19] und anderen Klassifizierungsmodellen auseinandergesetzt. Inwieweit hat dies Ihre eigene Art und Weise geformt, Wissen im Schreiben zu systematisieren und zu ordnen? Das geschieht explizit in Ihrem Aufsatz, in dem Sie biologisch zwar überholte, doch immer noch präsente genealogische Denkmöglichkeiten aus dem Zeitraum zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert analysiert haben und in dem Sie gewissermaßen selbst eine Klassifikation von verschiedenen Typen von Theoremen schaffen. [20]

<39>

Staffan Müller-Wille
Ich neige eigentlich nicht so sehr zur Klassifikation. Das ist vielleicht ein bisschen komisch, wenn man sich mit Linné beschäftigt. Dieses Beispiel "Konstellation, Serie, Formation" ist ja mehr eine Art Typologie von Denkfiguren, welche ich sozusagen an einzelnen Protagonisten instanziiere. Inwieweit das dann aber Allgemeingültigkeit für Epochen oder ähnliches besitzt, da möchte ich eher zurückhaltend formulieren. Sie haben in der Frage auch angedeutet, dass es auch Denkfiguren gibt, die weiterleben. Diesen Gedanken findet man auch beim späten Foucault, dass sie nie einfach aussterben. Insofern kann man das natürlich als klassifikatorisch auffassen, aber dann doch per Analogieschluss. Im strengen Sinne klassifizieren, wie das beispielsweise Biologen mit Organismen machen, kann man jedoch in der Wissenschaftsgeschichte nicht. Aufzeigen, was es gibt und was gedacht werden kann, funktioniert ganz gut. Inwieweit sich daraus eine Art Baum ergibt, an dem sich ablesen lässt, welche Phänomene voneinander abstammen oder anderes mehr, sehe ich eher skeptisch.

<40>

Alexander Kraus
In vielen Ihrer Publikationen stehen Hilfsmittel oder Techniken des Wissen Schaffens selbst im Zentrum Ihres Untersuchungsinteresses. Das kann der Herbarschrank Linnés sein, der faktisch eine ordnungsstiftende Funktion übernahm und die eigentliche Klassifikationsleistung erst möglich machte, [21] oder die besondere Verschränkung von Text und Bild in Linnés "Genera plantarum", die mit dem Diagramm ein neues "Repräsentationsregime" für die Naturwissenschaften etablierte. [22] Nun beruht unsere Wissenschaftsdisziplin ja unzweifelhaft auf Beleg- und Kontrollierbarkeit. Fällt das Schreiben über das Entstehen von Wissen und das Verstehen von Wissensprozessen, die per se transparenter, bereits strukturierter erscheinen, da ihnen eine eigene Ordnung innewohnt, leichter als das Schreiben über lebensweltliche Alltagsphänomene wie Kultur oder Politik, da sie der Wissenschaft in ihrer Struktur eben verwandter erscheinen?

<41>

Staffan Müller-Wille
Nein, das glaube ich nicht. Es ist vielmehr schwieriger, weil eine der Aufgaben von Wissenschaftsgeschichte ist, Wissenschaft lebensweltlich anzubinden. Und das ist mit diesen Repräsentationsformen eben sehr oft ausgesprochen schwierig. Das ist ja das, was die modernen Wissenschaften auszeichnet, dass sie sich vom Alltagsverständnis entfernen und auch häufig so wahrgenommen werden. Aus dieser Distanz gewinnt die Wissenschaft lustigerweise ihre Autorität. Wissenschaftsgeschichte hat schon ein Stück weit die Aufgabe, diese Distanz zu überwinden. Und das ist häufig sehr schwierig. Es ist auch umso schwieriger, je formaler die Sprache der Wissenschaft wird. Ungeheuer kompliziert ist dies dann etwa für Mathematikhistoriker, außer in speziellen Gebieten, wo die Mathematik eine klare Anwendung hat, aber das ist ja nicht immer so klar. Entsprechend schwer tun sich Mathematikhistoriker mit diesen neueren Formen der Wissenschaftsgeschichte, nicht weil sie dem grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen, sondern weil diese kulturelle Einbindung schwer einzuholen ist.

<42>

Frank Wolff
Eine der großen Umwälzungen in der Wissenschaftsgeschichte war das Historisieren des eigenen Handelns, womit der Beobachter in einen Austauschprozess mit dem Untersuchungsobjekt trat. Dies schildern Sie eindrücklich entlang der Linie des historischen Wissensursprungs, aber wir fragten uns, inwieweit dies in Ihrer Arbeit auch die "Geschichte der Geschichte" betrifft. Sie zitieren an einer Stelle in diesem Zusammenhang Bacon. Ihm zufolge sei die Geschichte ein "Primitive Matter of Philosophy". [23] Wie verschiebt sich bei Ihnen das Verhältnis, wenn wir den Begriff der philosophy durch den der Epistemologie ersetzen?

<43>

Staffan Müller-Wille
Das ist eine weitführende Frage. Aus Bacon lässt sich herleiten, dass man selbst in der Philosophie oder Epistemologie auf induktives Vorgehen angewiesen ist. Und Geschichte ist ja, Geschichtswissenschaft ist per se induktiv. Das hat mit dem eigenen Gegenstand zu tun, die Geschichte ist ja noch nicht abgeschlossen. Der eigene Gegenstand ist sozusagen induktiv. Dies ist in weiten Teilen zumindest der analytischen Philosophie als konstitutives Problem der modernen Philosophie noch nicht ernst genug genommen worden. Denn wenn man sich auf Induktion verlässt, dann verliert man die philosophische Gewissheit. Damit kommen nach wie vor weite Teile der analytischen Philosophie nicht zurecht. Da haben sich die kontinentalen Varianten in der Philosophie besser geschlagen, wenn auch um den Preis der Gewissheit. Das ist ganz entscheidend. Ich würde diese Unvollständigkeit, dieses Fragmentarische, das induktiven Verfahren anhängt, auch nicht einfach nur den Geschichtswissenschaften unterstellen wollen, sondern eben auch in weiten Teilen den Naturwissenschaften. Es ist ein ganzer methodischer Apparat in den Naturwissenschaften entwickelt worden, um damit zurechtzukommen, nämlich die Statistik und andere Kartierverfahren. Wie sich aber ein statistisches Verfahren für die Philosophie fruchtbar machen lässt, ist nach wie vor ein offenes Problem. Das wird zurzeit in der analytischen Philosophie unter dem Stichwort experimental philosophy gehandhabt. Hier gehen einige Leute soweit, dass sie ihre eigenen Experimente anstellen, und andere sagen: "Wenn wir irgendwelche Behauptungen darüber machen, was Begriffe bedeuten, dann sollten wir lieber erst einmal durch Befragung untersucht haben, was sie für die meisten Leute bedeuten." Das klingt dann oft ausgesprochen naiv, aber sich auf diese Übung einzulassen, ist für diese Philosophen durchaus sinnvoll. Ich würde schon sagen, dass das kleine Experimente sind. Und in meinem Fall ist es eben das historische Arbeiten, das Arbeiten mit Archivalien und historischen Texten.

<44>

Frank Wolff
Also hat Ihr historisches Arbeiten in dem Sinne wie bei jenen Philosophen einen soziologischen Ansatz?

<45>

Staffan Müller-Wille
Nein, gar nicht. Vielmehr verstehe ich mich als ein Philosoph, der sich auf induktive Verfahren stützt, in meinem Falle eben historische Quellenstudien. Man glaubt nicht, dass man irgendwie etwas deduktiv ableiten kann, sondern muss sich auf das verlassen, was in Resten übrig ist. Man wird nie zu abschließenden Antworten kommen. Darin sehe ich die Analogie, obwohl es mich, wie oben angesprochen, immer ein bisschen gereizt hat, Karten zu verwenden oder ähnliches.

<46>

Alexander Kraus
Klassische Wissenschaftsgeschichte oder -geschichtsschreibung ist zumeist entschieden am Fortschritt einer Disziplin, an den charakteristischen Verschiebungen eines Gedankenkonstrukts, einer speziellen Idee interessiert. Kontinuitäten, Stillstand und Unveränderlichkeit bleiben als Lücken in diesen meist linear oder chronologisch erzählten historiographischen Produktionen unsichtbar. Ist diese selbstgewählte Limitierung nicht einerseits irritierend angesichts einer sich zusehends von linearen Metanarrativen emanzipierenden Geschichte? Beispielsweise wird das 19. Jahrhundert von Jürgen Osterhammel auch nicht mehr allein an einer chronologischen Zeitachse beschrieben. [24] Und entspricht dies nicht andererseits einer eher konventionellen Art von Geschichtsschreibung, die einer so dynamischen Disziplin, wie es uns die Wissenschaftsgeschichte zu sein scheint, nicht gut zu Gesichte steht? Sie selbst haben ja in dem Vererbungsband explizit ein Narrativ gewählt, das "synchrone kulturelle Zusammenhänge" nachzeichnet. [25]

<47>

Staffan Müller-Wille
Eigentlich war der Trick bei diesem Vererbungsband, auf der einen Seite synchrone Zusammenhänge zu skizzieren, auf der anderen Seite aber das genaue Gegenteil. Die Kapitel alternieren zwischen einer Art linearer Begriffsgeschichte und solchen Versuchen, eine Art Begriffslandschaft synchron zu zeichnen. Die Schwierigkeit besteht schon darin, dass man nicht beides auf einmal machen kann. Selbst Jürgen Osterhammel kann das natürlich auch nicht konsequent machen. Man müsste dann im Grunde genommen mehrere Geschichten hintereinander weg schreiben, die Landschaften sozusagen um verschiedene Zeitachsen kreisen lassen. Oder durch eine Landschaft mehrere Zeitachsen legen. Aber das stellt eine große Schwierigkeit dar. Und ich glaube nicht, dass man die großen Erzählungen jemals hinter sich lassen kann, sie haben einen hohen organisierenden Wert.

<48>

Alexander Kraus
Sie haben einmal geschrieben, dass die "Naturgeschichte kein starres Gebilde [war] – auch wenn die Tableaus, in denen sie sich niederschlug, diesen Eindruck erwecken mögen – sondern [...] seit der Renaissance in einer ständigen Umwälzung, einer permanenten Zirkulation von Zeichen und Dingen [bestand], in der keine Repräsentation abschließend war, sondern jede auf die nächste verwies". [26] Offensichtlich geht es Ihnen in Ihrem Schreiben auch darum, die tatsächliche Dynamik dieser Wissenschaft zu vermitteln. Ein botanischer Garten war eben kein passiver Behälter. Spiegelt sich diese Zielsetzung vielleicht nicht allein in den Themenfeldern, für die Sie sich begeistern können, sondern eben auch in Ihrer Art zu schreiben?

<49>

Staffan Müller Wille
Ja, ich kehre schon immer wieder zu denselben Sachen zurück, im Wesentlichen aber weniger in publizierter Form, obwohl ich das auch mache, wie jeder heute, sondern durch Vorträge. Da ich mehrfach Vorträge zum selben Thema halte, passiert es halt, dass ich immer wieder zu denselben Feldern zurückkomme. Und da dies im Zeitalter des Computers ja quasi immer gleich gedruckte Form annimmt, hat man es dann mit einer Serie von Zwischenergebnissen zu tun. Und das war natürlich damals nicht möglich. Um an diese Prozesse heranzukommen, muss man sich entweder mit Texten beschäftigen, die durch mehrere Auflagen gegangen sind, was natürlich auch erst seit relativ kurzer Zeit der Fall ist, dass die Autoren selber mehrere neu bearbeitete Auflagen herausgeben. Oder man muss in die Manuskripte einsteigen. Aber der Text ist natürlich jeweils immer nur Zwischenergebnis – zumindest was die neuzeitliche Wissensproduktion angeht, und das halte ich auch für entscheidend. Es ist ein Missverständnis, zu glauben, dass wenn etwas gedruckt ist, es irgendwie auf mysteriöse Weise endgültig geworden oder endgültig gemeint sei. Das ist ein eigenartiges Missverständnis.

<50>

Frank Wolff
Also auf die titelgebende Trias dieser Ausgabe bezogen, ist die Geschichte in Notation – Niederschrift – Geschichte quasi der Anstoß zur nächsten Notation?

<51>

Staffan Müller-Wille
Ja genau, so kann man es sehen.

<52>

Frank Wolff
Zur letzten Frage, die Ihnen ein freies Assoziationsfeld überlässt. Sie sprechen an einer Stelle auch davon, dass die Denkform in der Biologie die Warenform zumindest mitbestimme, also die Ordnung der Pflanzen durch die Historisierung des Erkenntnisprozesses "unter den Händen statt hinter dem Rücken der Botaniker" [27] entstanden sei. Was entsteht in der Wissenschaftsgeschichte unter ihren Händen, und was vermuten Sie noch hinter ihrem Rücken?

<53>

Staffan Müller-Wille
Ich wäre froh, wenn es mir gelänge, mit meiner Arbeit ein bisschen dazu beizutragen, dass Wissenschaft als das verstanden wird, was sie meiner Meinung nach ist: nämlich ein ungeheuer produktives und kreatives Unternehmen, welches Weltgeschichte gemacht hat. Das unterschätzen Allgemeinhistoriker häufig. Mich hat bei Osterhammels Buch gefreut, dass dort die Wissenschaftsgeschichte vorkommt. Es sind meistens Welthistoriker wie Hobsbawm, die mit Kapiteln zur Wissenschaft aufwarten. Schön wäre, wenn ich dazu ein bisschen beitragen kann. In Bezug auf das, was sich hinter meinem Rücken abspielt, bin ich sehr viel skeptischer. Ich bin nicht letztgültig überzeugt davon, dass die Art von Wissen, die ich produziere, wirklich gebraucht wird, um eine Gesellschaft am Leben zu erhalten. Ich würde nicht gerne in einer Gesellschaft leben, in der diese Art reflexiver Übung fehlt, aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass es eine solche geben kann. Es gibt sie ja teilweise auch schon. Darin sehe ich auch eine Gefahr, die hinter unserem Rücken lauert. Da bin ich skeptisch oder sogar pessimistisch. Wissenschaft, also Naturwissenschaft, lässt sich heute kollektiv betreiben und wird ja auch in einer enorm arbeitsteiligen Form kollektiv betrieben. Im Grunde genommen ist es dann gar nicht mehr nötig, dass die einzelnen Individuen, die daran beteiligt sind, irgendetwas "wissen". Und das ist etwas, was ich mit Sorge beobachte.

Gesprächspartner:

Dr. Staffan Müller-Wille
The University of Exeter
The Queen's Drive
Exeter, Devon, UK EX4 4QJ
S.E.W.Mueller-Wille@exeter.ac.uk

Alexander Kraus, M.A.
Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Historisches Seminar, Abteilung für Osteuropäische Geschichte
Domplatz 20-22
48143 Münster
alexander.kraus@uni-muenster.de

Frank Wolff, M.A.
Universität Bielefeld / Johns Hopkins University, Baltimore
Bielefeld Graduate School in History and Sociology, Geschichte moderner Gesellschaften
Postfach 10 01 31
33501 Bielefeld
frank.wolff@uni-bielefeld.de



[1] Hier und im Folgenden: Staffan Müller-Wille: Carl von Linnés Herbarschrank. Zur epistemischen Funktion eines Sammlungsmöbels, in: Anke te Heesen / E. C. Spary (Hg.): Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftliche Bedeutung, Göttingen 2001, 22-38; ders.: Linnaeus' herbarium cabinet: a piece of furniture and its function, in: Endeavour 30 (2006), H. 2, 60-64.

[2] Anke te Heesen: Vom Einräumen der Erkenntnis, in: dies. / Anette Michels (Hg.): auf/zu. Der Schrank in den Wissenschaften, Tübingen 2007, 90-97, hier: 94.

[3] Niklas Luhmann: Lesen lernen, in: Niels Werber (Hg.): Niklas Luhmann. Schriften zur Kunst und Literatur, Frankfurt a.M. 2008, 9-14, hier: 10.

[4] Bezugnehmend auf Müller-Wille: Carl von Linnés Herbarschrank (wie Anm. 1), 22-38; ders.: Linnaeus' herbarium cabinet (wie Anm. 1), 60-64.

[5] Hans-Jörg Rheinberger ist Direktor des Berliner Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte und für seine Arbeiten zur Wissenschaftsgeschichte und zur Epistemologie des Experiments bekannt.

[6] Dazu zuletzt Lorraine Daston / Peter Galison: Objektivität, Frankfurt a.M. 2007.

[7] Inge Hinterwaldner / Markus Buschhaus: The Picture's Image: Wissenschaftliche Visualisierungen als Komposit, Paderborn 2006.

[8] Siehe Staffan Müller-Wille: Schwarz, Weiß, Gelb, Rot. Zur Darstellung menschlicher Vielfalt, in: Anke te Heesen / Petra Lutz (Hg.): Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort, Köln / Weimar / Wien 2005, 161-170; ders.: Paradies, Akademie, Ökonomie. Zur Transformation botanischer Gärten im 18. Jahrhundert, in: Natascha N. Hoefer / Anna Ananieva (Hg.): Der andere Garten. Erinnern und Erfinden in Gärten von Institutionen, Göttingen 2005, 235-249.

[9] Staffan Müller-Wille: Botanischer Tausch und Ökonomie der Natur, in: Regina Dauser / Stefan Hächler / Michael Kempe / Franz Mauelshagen / Martin Stuber (Hg.): Wissen im Netz. Botanik und Pflanzentransfer in europäischen Korrespondenznetzen des 18. Jahrhunderts, Berlin 2008, 79-89, hier: 81.

[10] Staffan Müller-Wille / Vitezslav Orel: From Linnaean Species to Mendelian Factors: Elements of Hybridism, 1751-1870, in: Annales of Science 64 (2007), H. 2, 171-215.

[11] Staffan Müller-Wille gemeinsam mit Sara Scharf: Indexing Nature: Carl Linnaeus (1707-1778) and his Fact-Gathering Strategies, in: Working Papers on The Nature of Evidence: How Well Do 'Facts' Travel? No. 36/08, London School of Economics, Jan 2009, <http://www.lse.ac.uk/collections/economicHistory/pdf/FACTSPDF/HowWellDoFactsTravelWP.htm> <29.08.2009)>

[12] Vergleiche das Interview mit Philipp Sarasin in dieser Ausgabe, <3>.

[13] Staffan Müller-Wille: Botanik und weltweiter Handel. Zur Begründung eines Natürlichen Systems der Pflanzen durch Carl von Linné (1707-78), Berlin 1999, 14.

[14] Staffan Müller-Wille / Hans-Jörg Rheinberger: Heredity – The production of an epistemic space, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Preprint 276, Berlin 2004, 1f.

[15] Hans-Jörg Rheinberger: Epistemologica: Präparate, in: te Heesen / Lutz: Dingwelten (wie Anm. 8), 65-75.

[16] Müller-Wille: Botanischer Tausch und Ökonomie der Natur (wie Anm. 9), 79.

[17] Carl Linnaeus: Musa Cliffortiana: Clifford's Banana Plant. With an introduction by Staffan Müller-Wille. Translated by S. Freer, Wien 2007.

[18] Müller-Wille / Orel: From Linnaean Species to Medelian Factors (wie Anm. 10).

[19] Müller-Wille: Botanik und weltweiter Handel (wie Anm. 13).

[20] Staffan Müller-Wille: Konstellation, Serie, Formation. Genealogische Denkfiguren bei Harvey, Linnaeus und Darwin, in: Sigird Weigel / Ohad Parnes / Ulrike Vedder / Stefan Willer (Hg.): Generation. Zur Genealogie des Konzepts – Konzepte von Genealogie, München 2005, 215-233.

[21] Müller-Wille: Carl von Linnés Herbarschrank (wie Anm. 1).

[22] Staffan Müller-Wille: Text, Bild und Diagramm in der klassischen Naturgeschichte, in: kunsttexte.de 4 (2002). <25.05.2010>

[23] Lorraine Daston / Staffan Müller-Wille / H. Otto Sibum: A history of facts, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Preprint 174, Berlin 2002.

[24] Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009.

[25] Hans-Jörg Rheinberger / Staffan Müller-Wille: Vererbung. Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts, Frankfurt a.M. 2009, 9.

[26] Müller-Wille: Paradies, Akademie, Ökonomie (wie Anm. 8), 237.

[27] Müller-Wille: Botanik und weltweiter Handel (wie Anm. 13), 18.

Empfohlene Zitierweise:

Staffan Müller-Wille / Alexander Kraus / Alexander Wolff : "Eher Zirkus als Legebatterie." Staffan Müller-Wille als Dompteur des eigenen Assoziationsreichtums , in: zeitenblicke 9, Nr. 2, [27.08.2010], URL: https://www.zeitenblicke.de/2010/2/kraus-wolff_mueller-wille/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-25839

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