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Zwischen 1980 und 1995 erschien in der größten schweizerischen Tageszeitung "Blick" beinahe täglich die Kolumne "Liebe Marta", verfasst von der Journalistin Marta Emmenegger (1923-2001) und ihren jeweiligen Mitarbeiterinnen. Die Kolumne fand bei den LeserInnen von Anfang an größten Anklang und wurde für die Schweiz schon bald zu einem der wichtigsten Diskussionsforen bei Problemen im Zusammenhang mit den Lebensbereichen "Liebe, Sex und Partnerschaft". Zeitweise wurde sie auch in der Münchener "Abendzeitung" abgedruckt, weshalb die Redaktion auch immer wieder Briefe von LeserInnen aus dem süddeutschen Raum erhielt. Mitte der 1980er Jahre gingen jährlich über 1.000 Ratgesuche ein. Zusammen mit den Kolumnen, den persönlichen Antwortbriefen und weiteren Dokumenten wurden im Umfeld der Kolumne geschätzte 25.000 Dokumente produziert, von denen heute noch rund 17.000 erhalten sind. Da er uneingeschränkt für die Forschung zugänglich ist, dürfte dieser Quellenkorpus im deutschsprachigen Raum einzigartig sein. [1] Er bietet zusammen mit heutigen Beratungsforen im Internet die Materialgrundlage für das hier vorzustellende Projekt, das seit Herbst 2004 an den Universitäten Zürich und Basel läuft und demnächst abgeschlossen sein wird. [2]

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Grundlegend für das Projekt war die Erfassung des größten Teils der Dokumente in einer relationalen Datenbank, auf die alle Beteiligten über eine Website zugreifen können und die auch für weitere Untersuchungen zur Verfügung stehen wird. Auf dieser Basis ist es möglich, die Daten nach verschiedenen Parametern wie zeitlicher Verteilung der Dokumente, Herkunft oder Alter und Geschlecht der Schreibenden usw. aufzuschlüsseln. Durch einen Vergleich mit sozialstatistischen Daten kann so beispielsweise gezeigt werden, dass Personen mit städtischer Herkunft leicht überdurchschnittlich vertreten sind. Entgegen einer in der Forschung vielfach vertretenen Meinung wird darüber hinaus deutlich, dass Männer nicht weniger häufig schreiben als Frauen. Neben den "äußeren" Merkmalen der Dokumente sind auch deren Inhalte über Schlagworte zugänglich.

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Während die Themen "Sexualität", "Therapeutik" und "Subjektivation" sowie ihre spezifischen historischen Konstellationen während der letzten Jahrzehnte in den Sozial- und Kulturwissenschaften hohe Beachtung gefunden haben, weist der Korpus der "Lieben Marta" auf ein viertes Glied in dieser Kette hin, das bisher nur selten systematisch analysiert wurde: die Materialität der Medien, deren technische und ökonomische Produktionsbedingungen und die Art und Weise, wie über die genannten Themen geschrieben oder gesprochen wird. Bei dieser Feststellung setzt das Projekt an: Das Schreiben über Sexualität – und damit die je konkrete Konstruktion des Sexuellen – wird im Hinblick auf sachliche, materielle und formale Aspekte untersucht. [3] Unter den formalen Aspekten verstehen wir in Anlehnung an Peter Fuchs und Enrico Mahler [4] medienübergreifende und im diachronen Verlauf relativ stabile Regeln dafür, wie in bestimmten Situationen kommuniziert werden soll. Beratung ist eine solche Form. Sie verlangt von den Ratsuchenden, dass sie ihr Anliegen als Problem formulieren, das mithilfe der Ratgeberin einer Lösung zugeführt werden kann – und nicht etwa in der Form einer tragischen Erzählung. Somit überkreuzen und konstituieren sich hier die Aussageregeln des Mediums, der "therapeutic culture" [5] und das Unbehagen [6], das die Schreibenden in ihren Beziehungen und ihrem Sexualleben verspüren. Ein Medienprodukt wie die "Liebe Marta" eröffnet einen Raum, in dem Regeln und Wissen verbreitet und ausgehandelt werden können und in dem die Subjekte die Möglichkeit erhalten, sich mithilfe von ExpertInnen selbst zu problematisieren.

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Drei Themenfelder stehen im Mittelpunkt des Projektes. Erstens geht es um die Sexualität als zentrales Element moderner Subjektivitäten und Geschlechterverhältnisse. Untersucht werden soll dabei insbesondere, welche Auswirkungen der sogenannten "sexuellen Revolution" der 1960er Jahre sich nachzeichnen lassen und wie in den 1980er Jahren die Aids-Krise ihre Spuren in den Quellen hinterließ. Zweitens interessiert uns die Beratung als Form, Selbstverhältnisse zu erzeugen. Die Fähigkeit, sich selbst zu problematisieren, neuen Gegebenheiten anzupassen und Ressourcen genauso wie Gründe des Versagens letztlich in sich selbst zu verorten, kommt den Anforderungen des derzeit hegemonialen kapitalistischen Produktionsregimes stark entgegen. Es ist nicht mehr die Logik der fordistischen Massenproduktion, für welche diese Subjektivierungsformen geeignet sind, sondern die Fähigkeit, unter prekären Beschäftigungsverhältnissen immer neue "Projekte" anzureißen. [7] Drittens schließlich untersuchen wir, wie genau die formalen und diskursiven Vorgaben im konkreten Schreiben von Briefen und Kolumnen umgesetzt werden.

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Das Projekt besteht aus folgenden vier Teilprojekten: Annika Wellmann ("Wie der Sex in die Zeitung kam. Die Konstruktion des Sexuellen in der Ratgeberrubrik 'Liebe Marta', 1980-1995") untersucht die Kolumne der "Lieben Marta". Sie fragt einerseits nach den spezifischen Produktionsbedingungen des Mediums, andererseits nach der Art und Weise, wie das Sexuelle darin konstruiert wird. [8] Komplementär dazu ist das mittlerweile abgeschlossene Teilprojekt von Peter-Paul Bänziger ("Trauriger Sex. Körper, Beziehungen und Beratung im späten zwanzigsten Jahrhundert: eine Archivanalyse") angelegt, das sich ausschließlich auf die Briefe der Ratsuchenden stützt. Anstatt von einzelnen sexualitätsgeschichtlich relevanten Themen wie Aids oder partnerschaftlichen Beziehungsmodellen auszugehen, steht hier der Korpus als Ganzes im Zentrum: Welche Bereiche des Lebens werden in den Texten wie thematisiert? Es entsteht auf diese Weise eine Art "Karte" [9] dessen, was die Schreibenden unter den spezifischen medialen, formalen und diskursiven Bedingungen jener Zeit beschäftigte. Ebenfalls den Briefen der LeserInnen widmet sich das Teilprojekt von Beatrice Schwitter ("Die Leserbriefkolumne als Stimulus einer alltäglichen Schriftlichkeit. Autobiographisches Schreiben in Leserbriefen an die 'Liebe Marta', 1980-1995"). Viele Schreibende verfassten in ihren Briefen narrative Lebensberichte, die – aus der Sicht des Mediums – nicht immer nötig gewesen wären, um ein Problem zu formulieren. Diesem "autobiographischen Überschuss" geht das Projekt nach, indem es eine Auswahl von ca. 600 Lebensgeschichten inhaltlich analysiert und dabei nach den Bedeutungen des Sexuellen in der autobiographischen Zusammenschau fragt. Während diese drei Projekte sich ausschließlich auf die Kolumne der "Lieben Marta" und deren mediales und diskursives Umfeld stützen, weitet Stefanie Duttweiler ("Vom Leserbrief zum virtuellen Rat: Zur Gouvernementalität medialisierter Selbst-Thematisierung im Übergang zum Internet-Zeitalter") schließlich das Untersuchungsfeld aus, indem sie die Beratung der "Lieben Marta" mit den aktuellen Beratungsforen im Internet vergleicht. [10]

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Die wichtigsten (Zwischen-) Ergebnisse der vier Teilprojekte im Hinblick auf die grundlegende Frage nach der Verschränkung von Sexualität, Medialität und Beratungskommunikation wurden vom 6. bis 8. November 2008 im Rahmen der Tagung "Fragen Sie Dr. Sex! – Beratungskommunikation und die mediale Konstruktion des Sexuellen" an der Universität Zürich präsentiert. [11]

Autor:

Dr. des. Peter-Paul Bänziger
Universität Zürich
Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
Rämistrasse 64
CH-8001 Zürich
peter-paul.baenziger@sal.ch



[1] In Frankreich wird seit Mitte der 1990er Jahre der vergleichbare Korpus von Menie Grégoire untersucht; vgl. u.a. Dominique Cardon / Smaïn Laacher: L'intimité radiophonique. L'émission de Menie Grégoire (1967-1981), Brochure éditée par les Archives contemporaines d'Indre-et-Loire 1994; Dominique Cardon: „Chère Ménie“: Émotions et engagements de l'auditeur de Ménie Grégoire, in: Revue Résaux 70 (1995), 41-78; Marie-Véronique Gauthier: Le coeur et le corps. Du masculin dans les années soixante. Des hommes écrivent à Menie Grégoire, Paris 1999; Anne-Marie Sohn: Age tendre et tête de bois. Histoire des jeunes des années 1960, Paris 2001.

[2] Das Projekt unter der Leitung von Prof. Dr. Sabine Maasen (Basel), Prof. Dr. Alfred Messerli und Prof. Dr. Philipp Sarasin (beide Zürich) wurde von 2004 bis 2008 vom schweizerischen Nationalfonds SNF finanziert.

[3] Diese Vorgehensweise ist mit Siegfried Jägers Vorschlägen für die Analyse von Dispositiven vergleichbar; vgl. Siegfried Jäger: Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte einer Kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse, in: Reiner Keller / Andreas Hirseland / Werner Schneider / Willy Viehöver (Hg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 1: Theorien und Methoden, Opladen 2001, 106-111.

[4] Vgl. Peter Fuchs / Enrico Mahler: Form und Funktion von Beratung, in: Soziale Systeme 6 (2000), 349-368.

[5] Vgl. Nikolas Rose: Inventing our Selves. Psychology, Power, and Personhood, Cambridge 1998, 156.

[6] Vgl. dazu Stefanie Duttweiler / Peter-Paul Bänziger: "Chère Marta, j'ai un problème". La mise en mots du malaise sexuel dans le courrier du cœur, in: Revue des Sciences Sociales 36 (2006), 108-115, hier: 112.

[7] Vgl. dazu Luc Boltanski / Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003.

[8] Vgl. den Aufsatz in dieser Ausgabe.

[9] Vgl. Gilles Deleuze / Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1997, 23.

[10] Vgl. den Aufsatz in dieser Ausgabe.

[11] Weitere Informationen finden sich auf der Website (http://www.fsw.uzh.ch/dr_sex) der Tagung.

Empfohlene Zitierweise:

Peter Paul Bänziger : Liebe Marta. Ratgeberkommunikation und die mediale Konstruktion sexueller Selbstverhältnisse im "Blick" (1980–1995) und in aktuellen Internetforen , in: zeitenblicke 7, Nr. 3, [2008], URL: https://www.zeitenblicke.de/2008/3/baenziger/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-16312

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